Sonja Vogel

Damenbesuch im Herrngarten

Am Stadtrand und doch in weniger als einer Viertelstunde im Zentrum. Zu Fuß wohlgemerkt. Carolas kleine Mietswohnung am Rhönring war eine Chimäre, war Wechselbalg und geliebtes Kind zugleich. Nach vorn laut, zum Hinterhof leise. Ort der Einsamkeit, - Carola lebte allein mit ihrer Katze, - und gleichzeitig Ort des geselligen Beisammenseins, denn sie hatte viele Bekannte im Martinsviertel.

Dies war ihr Viertel. Hier war sie aufgewachsen, hier in dieser Straße. Als sie die Wohnung ihrer Eltern verlassen hatte, war sie nur ein paar Häuser weitergezogen, um dann zu bleiben. Seit sie als kleines Kind mit Vater und Mutter in St. Malo gewesen war, dachte sie sich die elterliche Wohnung als eingebettet in die Festungsmauern einer Insel, gegen die das tosende Meer unablässig anbrandete. "Eine wildromantische Phantasie, hat unsere kleine Seeräuberbraut", witzelte ihr Vater, der sich in einer Bürgerinitiative gegen die Lärmbelästigung engagierte.

Ihre Eltern waren fortgezogen. Besonders ihre Mutter hatte unter dem ewigen Dröhnen und Gestank des Verkehrsstromes gelitten. Carola hatte ihr Abitur gemacht und ein Studium begonnen. Gerade war sie dabei dieses abzuschließen. Und danach? Sie war unentschlossen.

Carola überprüfte ihre Erscheinung im Spiegel. Sommersonne fiel an diesem Samstagmorgen in schrägen Garben durchs Fenster und warf irritierende Lichtmuster auf sie. Sie hatte das schwarze, oben durchbrochene Kleid übergestreift, das sie kürzlich mit Ines beim Trödler erstanden hatte. Es saß wie angegossen. Sie nahm ihre Haare zurück. Kühles Fell ihrer schwarzen Katze glitt an ihren nackten Beinen entlang. Aber war das nicht zu gewagt, zu aufdringlich, so ganz bloß unter dem durchbrochenen Brusteinsatz? Sah der da nicht zuviel von ihr, der Unbekannte und doch aus unzähligen Mails Vertraute, den sie heute das erste Mal von Angesicht zu Angesicht sehen sollte?

Schon als sie noch mit Bernd zusammen gewesen war, hatte sie diese Mailfreundschaft angefangen. Keine große, transatlantische Angelegenheit, aus Marburg kam er. Trotz, oder gerade wegen des intensiven Gedankenaustausches, hatten sie es unterlassen, sich gegenseitig Fotos von sich zu schicken.

Heute war es also so weit, und selbstverständlich war sie aufgeregt. Und wenn sie sich erregte, konnte es leicht geschehen, daß sie streitlustig und widerborstig wurde. Sie beschloß, ihr Outfit so zu lassen wie es war und schob ihre Füße in die schwarzen Pumps. "Dressed to kill", murmelte sie. Dabei erinnerte sie sich, wie sie als Heranwachsende mit Ines im Woog in eine der Umkleidekabinen geschlüpft war, um dort im Halbdunkel Oberweitenvergleiche anzustellen.

Sie ließ das Haar doch offen, zog rasch die Lippen nach und wäre beinahe ohne ihr Buch aus der Wohnung gegangen. Am Stadtrand und doch so schnell im Zentrum. Obwohl sie schon so lange hier im Norden von Darmstadt wohnte, verschätzte sie sich immer wieder in der Wegezeit. Meistens kam sie zu Verabredungen zu spät. Deshalb hatte sie für diesen besonderen Tag eine Sicherheitsmaßnahme getroffen: Sie wollte sich zunächst sehr zeitig in den Herrngarten begeben, dort etwas lesen, um dann den kurzen Weg zum Treffpunkt im Minicafé am Luisenplatz anzutreten.

An der neogotischen St. Elisabethkirche, vis-à-vis des Porzellanschlößchens, schaute sie in ihrer Handtasche nach, ob sie auch die rote Nelke nicht vergessen hatte. War ein Einfall von ihm gewesen. Er als Erkennungszeichen eine weiße, sie eine rote Nelke. Wie geistreich. Aber ihr war auch nichts Besseres eingefallen. Sie durchbrochene Bluse, er Netzunterhemd?

Im Porzellanschlößchen, das eigentlich Prinz-Georg-Palais hieß, war sie mit Großvater gewesen, als sie noch ein kleines Kind war. Sie erinnerte sich genau an die riesigen Filzpantoffeln, die man über die Straßenschuhe ziehen mußte, damit das glänzend gebohnerte Holzparkett keinen Schaden nahm. Die zarte Rokokoatmosphäre mit den filigranen Vasen und Figurinen aus feinster Keramik versetzten sie damals in die Märchenwelt der Erzählungen von Andersens "Altem Haus" und der "Chinesischen Nachtigall", die ihr Mutter abends am Bett vorgelesen hatte.

Durch die Nordpforte schritt sie in den Park. Rechts Schreie vom Kinderhort. Auf der anderen Seite des Weges, an der verwitterten Mauer zum Garten des Schlößchens, die Baumreihe, in der des Abends die Stare ihr seltsam surrendes und pfeifendes Konzert veranstalteten. Fahrradfahrer und Skater sausten an ihr vorbei. Eigentlich hätte sie gleich rechts abbiegen müssen, um zu ihrem Leseplatz an dem Ententeich mit der kleinen Insel zu gelangen. Aber vorher wollte sie noch Tadzio besuchen. Kurze Zeit später saß sie auf dem kühlen Steinabsatz zu Füßen "Tadzios" und zündete sich eine Zigarette an. Eine rituelle Handlung, sozusagen.

Ursprünglich hatte der hübsche Junge mit den Korkenzieherlocken als kleine Statuette auf Großvaters wuchtigem Schreibtisch gehockt und andächtig die Sohle seines linken Fußes betrachtet. "Was macht das Mädchen da?" hatte sie ihren Großvater gefragt. "Das ist kein Mädchen, auch wenn er so lange Haare hat. Das ist Tadzio. Er versucht sich einen Dorn aus seinem Fuß zu ziehen", erklärte er. Als sie dann später an dem Goethedenkmal im Herrngarten verbeikamen und Carola die Bronzestatue des stehenden Jünglings zwischen den Säulen entdeckte, sagte sie zu Großvater: "Schau mal, schon wieder der Tadzio!" Die beiden Bildnisse hatten tatsächlich eine gewisse Ähnlichkeit. Ihr Großvater hatte genickt und ihr die Geschichte von dem Jungen, der ganz aus Bronze war, deshalb nie fror und folglich keine lästigen Kleider benötigte, erzählt:

Tadzio hatte die weite Reise von Italien bis zu Großvaters Schreibtisch gemacht, weil er Angst gehabt hatte, in seiner Heimat eingeschmolzen zu werden. Schließlich hatte es ihm hier so gut gefallen, daß er geblieben war. Nur manchmal begann er zu wachsen, wanderte auf geheimnisvollen Wegen in den Park und stieg auf den Steinsockel, um eine große Rede zu halten. Doch jedesmal, wenn er zu sprechen anheben wollte, hatte er den Inhalt seiner Rede vergessen und blieb stumm. Das kam daher, daß Tadzio auf dem Weg dorthin in etliche spitze Gegenstände wie Dornen und Scherben getreten war. Vor lauter Schmerzen konnte er sich nicht konzentrieren. Zu Hause, auf Opas Schreibtisch hatte er dann alle Mühe, die Störenfriede wieder zu entfernen.

"Na Tadzio, hat jemand deine Nacktheit wieder nicht ertragen können", sprach Carola zu dem Bronzejüngling. Wieder einmal war er an seiner empfindlichsten Stelle eingefärbt worden. Diesmal hatte der Dekorateur floureszierende rote Sprühfarbe zum Einsatz gebracht. Der Stein, auf dem sie saß, war inzwischen warm geworden und ihre Zigarette war verglimmt. Die Luft hatte sich mittlerweile stark aufgeheizt. In der teigigen Schwüle bewegte sie sich träge dem Teich zu. Eine Elster flatterte quaksend und schackernd aus einem Gebüsch auf. Bemerkte Carola, was um sie herum geschah? Die Blicke, die sie trafen, die Kinderschreie, der Gitarrenspieler auf dem Rasen oder die streitenden Jugendlichen am Musikpavillon? Nein, wirklich wahrgenommen hatte sie all dies bis jetzt nicht. Nur ein allgemeines Gesumme und Geflirre war da um sie herum.

Mit schweren Beinen strebte sie, inzwischen barfuß, die Pumps in der Hand, ihrem Lieblingsplatz zu. Niemand war unter ihrer Trauerweide zu sehen. Etwas matt ließ sie sich im Schatten des Baumes nieder. Nach kurzem Dösen, ausgestreckt im Gras, lehnte sie sich an den Baumstamm und begann zu lesen. Einige Minuten waren verstrichen, da setzte sich unweit von ihr ein blonder Schnauzbart auf die Wiese. Er war um die Vierzig. Sein weißes T-Shirt verkündete: "I Herz NY". Arm aufgestützt, ein Bein angewinkelt, lehnte er sich zurück und beobachtete die Enten.

Carolas linkes Bein fing an zu kribbeln. Sie hatte es seitlich untergeschlagen, und nun war es eingeschlafen. Vorsichtig begann sie, es zu massieren. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie der blonde Schnauzbart breit herübergrinste und dabei versuchte, möglichst lässig zu wirken. Jetzt bemerkte sie auch seine spitzen Cowboystiefel. Sie mochte keine Cowboystiefel und schon gar nicht spitze.

Kurz darauf vernahm sie zwei Männerstimmen schräg hinter sich. Wie sich herausstellte, gehörten sie zwei Endzwanzigern, beide im obligaten Schwarz, die sich auf einer Bank niedergelassen hatten. Der eine mit insektenhafter, dunkler Sonnenbrille und Dreitagebart. Nicht nur seine Brille und seine beneidenswert weißen Zähne, sondern auch seine mahagonifarbenen Haare glänzten in der Sonne. Carola wunderte sich über eine Gänsehaut, die plötzlich ihren rechten Arm hinaufhuschte. Ihr Buch rutschte ihr beinahe aus den verschwitzten Fingern. Blondbart grinste wieder.

Ein Rascheln drang an ihr Ohr. Seitlich, vom Ufer des Sees kam es her. Erst konnte sie nichts Genaueres ausmachen. Dann war ihr alles klar: Ein Spanner im Ufergebüsch. Jetzt war auch der blonde Wikinger im Asphalt-Cowboy-Dress aufmerksam geworden. Gewichtig richtete er sich auf und spähte hinüber. Der neugierige, kleine Mann mit den peinlich exakt gescheitelten, schwarzen Haaren fühlte sich offenbar in seinem Versteck entdeckt. Die beiden auf der Parkbank waren verstummt und äugten herüber.

Die Cowboystiefel standen mit einem Mal neben ihr, und der blonde Schnauzbart beugte sich vertraulich zu ihr herab:
"Fühlen Sie sich durch den Kerl da hinten belästigt?"
Aha, mein Beschützer, dachte Carola. Nur noch ein sonores "Madam" hatte gefehlt. Stattdessen tropfte etwas - war es Schweiß oder eine andere Körperflüssigkeit? - von seiner roten Nase auf eine Seite ihres aufgeschlagenen Buches und hinterließ dort einen erbsengroßen Fleck. Es roch nach schalem Bier.

Nicht unähnlich einem Vogel, der sich in einem Netz verfangen hat, zappelte der kleine, schwarzhaarige Mann im Gestrüpp, dabei nervös an seiner grauen Hose nestelnd, die jeden Moment herunterzurutschen drohte. Ein lauter Platsch. Der Ertappte, der sich in seiner Hose verheddert und die Balance verloren hatte, war am abschüssigen Ufer hinuntergerutscht und stand nun wie ein begossener Pudel bis zu den Knien im trüben Wasser. Von der Insel tönte empörtes Entengequake. Oder war es Schadenfreude? Vor Schreck fiel Carola das Buch aus der Hand. Von der Bank her kam ein dreckiges Lachen. Ein schmutziges Stammtisch-Häme-Lachen, wie sie es nur allzu gut aus den Studentenkneipen der Lautenschlägerstraße, wo sie als Kellnerin gejobbt hatte, kannte. Eine Art von Herrenwitzgelächter, das sie schon immer mit Inbrunst gehaßt hatte. Noch ehe ihr blonder Beschützer das Buch zwischen ihren Beinen aufheben konnte, hatte sie ihre Sachen zusammengerafft und war davongeeilt.

"Immer noch besser als in Hundedreck zu treten", beruhigte sich Carola, als sie sich in einen der raren, freien Stühle vorm Minicafé sinken ließ. Zigarette angesteckt. Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, daß sie schon etwas über die Zeit für ihre Verabredung war. Sie blickte um sich: Keine weiße Nelke zu sehen. Na, dann warten wir eben noch ein wenig. Sie bestellte sich einen Capuccino und genoß es, das quirlige Treiben auf dem Luisenplatz mit seinen vorbeihuschenden Menschen und den klingelnden Straßenbahnen an sich vorüberziehen zu lassen. Die Sinne wurden angenehm zerstreut.

Der Capuccino stand dampfend vor ihr. Gedankenverloren kramte sie in ihrer Handtasche. Sie hielt den glatten, lindgrünen Blütenknopf der Nelke zwischen ihren Fingern. Die roten Blütenblätter sahen zerquetscht aus. Bei ihrem überstürzten Aufbruch im Park war sie auf ihre Tasche getreten. Sollte sie sich die Blüte anstecken? Nein! Sie wollte ihn zuerst sehen. Sie zögerte. Und was war, wenn er genauso handelte? Gerade wollte sie sich die Nelke in die durchbrochene Spitze über ihrer Brust setzen, da erscholl ein Lachen. Schnell ließ sie die Hand mit der Nelke sinken. Ruckartig riß sie den Kopf herum, blickte über ihre Schulter und gewahrte, was sie geahnt hatte: Die beiden Schwarzgekleideten aus dem Herrngarten hatten sich einige Tische weiter eingefunden. Inzwischen hatten sie sich vermehrt und lachten nun zu dritt um die Wette. Passend zu seinen blendend weißen Zähnen, die der Mahagonimann bleckte, prangte an seiner schwarzen Brust eine Blume.

Plötzlich tauchte ihre Freundin auf. "Ines, Ines", rief Carola so leise es ging, um keine unnötige Aufmerksamkeit zu erregen.
"Na, ist Dein Date schon vorbei?" fragte die Angerufene mit hochgezogenen Augenbrauen.
"Ja", entgegnete Carola knapp, sprang auf und hakte ihre verblüffte Freundin unter und zog sie in Richtung Weißer Turm. "Hab ich Dir eigentlich schon von Tadzio erzählt?" lachte Carola und warf die Nelke beiläufig in den Rinnstein.
"Ist das wieder so ein neuer Schwarm von dir?" kam es zurück.
 


Letzte Änderung 30.07.2007
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