Ingrid Beck
"Da werdet ihr noch oft stehen und weinen und eure Mama hat keine Zeit für euch
... " Ernst Ludwig erinnerte sich nur zu gut an den Satz einer Studentin von der
Studentenreitgruppe. Sein kleiner Bruder Lothar und er hatten dagestanden
zwischen der Personaltür zur Küche von der Reiterschänke und den Gästetoiletten
und hatten lange, lange auf ihre Mutter gewartet und geweint, weil sie nicht
herauskam und sie beide nicht hineindurften. Und dann kam die Studentin, die zur
Toilette wollte, und versuchte sie zu trösten und machte damit alles noch viel
schlimmer. Sie erzählte ihnen, dass ihre Eltern auch eine Gastwirtschaft hatten
und nie Zeit für sie. - Irgendwann kam Mama dann doch heraus und brachte sie
schnell ins Bett und sagte noch schneller "Gute Nacht" und vergaß ganz, dass sie
noch Hunger und Durst hatten und eine Geschichte hören wollten und wissen
wollten, was all die vielen Leute da unten in der Gaststube eigentlich wollten.
Wo sie vorher gewohnt hatten, waren Mama und Papa immer für sie dagewesen. Papa
hatte sich nur viele Sorgen gemacht, ob das Geld reichen würde, weil er
arbeitslos war und sie waren andauernd herumgefahren und hatten nach einer
Gaststätte gesucht. Und jetzt wohnten sie über einer und niemand hatte mehr Zeit
für ihn und Lothar.
Das mit der Studentin war nun schon über drei Jahre her und eigentlich hatte
sich nichts geändert. Seine Eltern hatten immer noch keine Zeit für ihn. Zuerst
war er in den Kindergarten geschickt worden, ein Jahr später dann auch sein
kleiner Bruder. Jetzt ging Ernst Ludwig schon in die Schule und konnte lesen und
schreiben.
Heute war der erste Morgen in seinen ersten großen Ferien und außerdem Samstag
und Lothar musste nicht in den Kindergarten. Irgendetwas mussten sie
unternehmen, irgendetwas, was sie vorher noch nie gemacht hatten. "Lothar, bist
du schon wach?" Ernst Ludwig lugte von seinem Hochbett herunter auf das halb so
hohe Bett seines Bruders. "Was ist denn?" Lothar schaute neugierig mit seinen
großen, braunen Augen aus einer Ecke seiner zu einem hohen Schneckenhaus
zusammengedrehten Bettdecke. "Was machen wir heute?" "Wir gehen in die Burg."
"Meinst du das Jagdschloss? Was machen wir denn da?" "Wir verwalten es." "Das
geht nicht, wir dürfen doch gar nicht alleine über die Straße." "Dann richten
wir uns erst mal ein Büro ein und verwalten von dort aus das Schloss, bis wir
genug Geld haben und groß genug sind für alles." "Du meinst so ein richtiges
Büro, wie der Papa hat? Denk mal nach, Lothar, vielleicht fällt dir ein, wo wir
unser Büro einrichten könnten, du hast doch immer so tolle Ideen." "Ich weiß
aber nichts" "Denk doch mal richtig nach." "Vielleicht im Klo, das liegt über
den Gang und hat einen eigenen Schlüssel - aber Mama und Papa wollen auch dahin,
darum geht das nicht." "... oder auf dem Dachboden, der ist riesengroß und da
stehen viele alte Sachen, die wir als Büroeinrichtung benutzen könnten. Aber das
geht auch nicht, weil der nicht uns sondern dem Reiterverein gehört." "Ja, und
in den Keller dürfen wir bestimmt auch nicht, der gehört uns zwar, aber da hat
Papa seine ganzen Weinflaschen und bestimmt Angst, dass ich sie alle austrinke."
""An sowas zu denken, sieht dir ähnlich, Lothar, aber ich glaube, wir dürfen da
nicht rein, weil dann die ganze Zeit das Licht brennen würde und wir müssen
schließlich sparen, weil wir so wenig Geld und so viele Schulden haben. Und in
das Schlachthaus dürfen wir deshalb auch nicht und außerdem können wir davon das
riesige Torschloss nicht alleine auf- und zuschließen." "Dadrin ist es auch
ekelig, da sind so viele Spinnen und Ratten. - Und überall woanders sind die
Reiter und die Pferde und die Schafe und die Hühner vom Herrn Anjas. - Da fällt
mir doch was ein, Ernst Ludwig. Unter der Brücke ist es doch trocken - und viel
zu niedrig für Erwachsene - und außerdem geht da sowieso niemand hin."
"Au ja, Lothar, ich hab's ja gewusst, dir fällt immer etwas ein. Da gehen wir
nachher gleich hin."
Ernst Ludwig kletterte die Leiter von seinem Hochbett zwei Stufen hinunter, den
Rest sprang er auf den Fußboden, so dass die alten Holzdielen krachten. Mama
schaute durch den Vorhang, der die kaputte Falttür ersetzt hatte, in das
Kinderzimmer: "Guten Morgen, es gibt Frühstück und seid ein bisschen leise,
sonst schimpft Papa, wenn er aus dem Badezimmer kommt."
Das Frühstück bestand aus Zitronentee, Toastbrot und viel Nuss-Nougat-Creme. Der
Frühstückstisch stand genau vor der Tür, die zum Balkon gehörte. Vom
Kinderzimmer führte eine zweite Tür auf den Balkon und nur diese Tür wurde
benutzt. Der Balkon war eigentlich der schönste Teil von der Wohnung, fand Ernst
Ludwig. Er war groß, hatte zwar keine Sonne, weil er nach Norden ausgerichtet
war, aber man konnte von dort aus den ganzen Biergarten und den restlichen
Innenhof vom Reiterverein überblicken. Das Esszimmer der Gastwirtswohnung wurde
von einer großen Glastür von einem öffentlichen Flur abgetrennt. Genau gegenüber
lag das Badezimmer mit Badewanne, Waschbecken, Klo und dem einzigen Südfenster.
Eine Küche gab es in der Wohnung nicht, aber das war ja auch nicht notwendig,
denn umfangreichere Mahlzeiten kamen aus der Gaststättenküche ein Stockwerk
tiefer.
"Da ist er wieder!" Lothar zeigte mit seinen Nougat-Creme-Fingern auf einen
Kleiber, der kurz das Balkongeländer untersuchte, um bald darauf kopfabwärts am
Stamm der Kastanie entlangzulaufen. Schließlich wechselte er zu der noch
dickeren, noch höheren und noch viel älteren Eich in der Mitte des Innenhofs.
Mama beobachtete den Kleiber und putzte dabei Lothar die Creme von Gesicht und
Händen. Dann schickte sie beide Kinder zum Anziehen.
"Dürfen wir draußen spielen?" fragte Ernst Ludwig. "Aber selbstverständlich, es
ist doch schönes Wetter!" Mama reichte beiden ihre Sandalen aus dem
Schuhschrank. "Komm, wir gehen zum Bach", Ernst Ludwig zog Lothar am Ärmel. "Ist
da auch kein Hund?" Seitdem einer von den großen schwarzen Hunden von dem
Dressurreiter, der seinen eigenen Stall auf dem Reiterhof hatte, vor der
Badezimmertür gelegen und geknurrt hatte, als Lothar versuchte, das Klo zu
verlassen, vergewisserte er sich immer, dass keines dieser bissigen Tiere in der
Nähe war. "Nein, am Bach sind nur Wolletje und Bolletje." Das waren die Schafe
von Herrn Anjas, dem Reitlehrer und die stießen nur gelegentlich mit ihrem
wolligen Kopf nach jemandem, das war nicht weiter schlimm.
Der Ausgang führte in den vorderen Hof, wo die Autos parkten. Das war die
Südseite vom Haus und da hatte Mama Blumenkästen mit leuchtendroten
Hängegeranien unter den Gaststättenfenstern aufgehängt. Ernst Ludwig hatte dabei
geholfen, die leeren Blumenkästen über die Straße hinüberzutragen, zu der
Gärtnerei zwischen dem alten Zeughaus und dem Jagdschloss. Die schweren, frisch
bepflanzten Kästen hatte Papa dann mit dem Auto abgeholt. Papa hatte ein großes
Privileg: er durfte mit seinem Auto im hinteren Hof parken, direkt vor der
Küchentür. Er hatte extra einen Schlüssel für den Pfosten, der die anderen
Autofahrer daran hinderte, auch in den Innenhof zu fahren.
Aber im Augenblick interessierte sich Ernst Ludwig mehr für die andere Seite des
Außenhofs. In der Schmiede war der Schmied gerade dabei, ein Pferd zu beschlagen
und kümmerte sich nicht um die Kinder. Beim Reitlehrerhaus war niemand zu sehen,
auch nicht im angrenzenden Garten. Auf der anderen Seite vom Bach war zwar noch
ein Stallgebäude, umgeben von Koppeln, aber dort hielt sich selten jemand auf,
nur gelegentlich einer von den marokkanischen Pferdepflegern, der den Stall
saubermachte. Die Marokkaner unterhielten sich nur in ihrer Sprache und pflegten
ihre eigenen Bräuche, die interessierte es sehr wenig, was die beiden Jungen
trieben. Ernst Ludwig wusste nur, dass sie mal bei einem großen Zirkus als
Tierpfleger gearbeitet hatten. Als dieser Zirkus nämlich auf dem Messplatz
gastierte, kamen ganz viele alte Bekannte der Marokkaner zu Besuch auf den
Reiterhof und brachten Eintrittskarten für ihn und Lothar mit.
Von der vielbefahrenen Chaussee, die aus der Stadt in den nahegelegenen Wald
führte, zweigte nach rechts die Einfahrt zum Zeughaus und nach links die
Einfahrt zum Reiterhof ab. Die Einfahrt zum Reiterhof war flankiert von
Fahnenstangen, auf denen bei Turnieren und Auktionen große Fahnen wehten. Links
im Gebüsch stand ein bronzenes ungezäumtes Pferd mit einem nackten Reiter aus
Bronze darauf. Die Stadt hatte darauf bestanden, dass dieses Kunstwerk dort
aufgestellt und vom Reiterverein verwaltet werden sollte, aber dem Vorstand
gefiel soviel Nacktheit nicht und darum durften dort Büsche und Brennnesseln so
hoch wachsen wie sie wollten. Hinter diesem Standbild und den Fahnenstangen
folgte gleich die Brücke über den Bach und dann ein großes schmiedeeisernes Tor
in einer Ziegelsteinmauer, durch das Ernst Ludwig und Lothar jetzt liefen.
Gleich nachdem sie die Brücke überquert hatten, kletterten sie den von den
Pferden ausgetretenen Pfad hinunter und standen an einem Zaun, der sie von
Wolletje und Bolletje trennte und von den Hühnern des Reitlehrers, die ihren
Stall direkt hinter dem einsamen Pferdestall hatten. Herr Anjas besaß einen
eigenen kleinen Steg, der vom Garten seines Hauses über den Bach zu seinen
Tieren führte. Aber da wollten Ernst Ludwig und Lothar gar nicht hin. Sie
hielten sich rechts und befanden sich gleich zwischen hohem Unkraut und dann
unter der wirklich niedrigen Brücke. Der Bach führte nie sehr viel Wasser und
jetzt im Sommer war er bis auf ein schmales Rinnsal ausgetrocknet. Das Wasser
wurde für den Fischteich hinter dem Jagdschloss benötigt.
Die Disteln stachen und die Brennnesseln brannten, aber Ernst Ludwig und Lothar
gingen mutig weiter. Der Lehm glitschte in ihre Sandalen und der letzte Rest
Bachwasser auch. Unter der Brücke gab es eine trockene Stelle, groß genug für
sie beide. Hinter der Brücke lag wieder ein Stück Wiesenwildnis und dann folgte
eine zweite Brücke, über die die Chaussee führte. Diese Brücke bestand einfach
nur aus einer großen Betonröhre, die auf beiden Seiten durch eine Gittertür
verschlossen war. "Das hier ist nichts für uns, wir bleiben unter der ersten
Brücke, aber Gummistiefel brauchen wir da auch," stellte Ernst Ludwig fest. "Wir
können unseren Schreibtisch auf der kleinen Sandplattform aufstellen, dann haben
wir die Brücke genau als Dach" fügte Lothar hinzu. "Ja, das stimmt aber was
nehmen wir als Schreibtisch?" "Wir holen eine leere Holzkiste aus Papas
Weinkeller." "Und zwei von den losen Pflastersteinen, die im Hof liegen, als
Stühle. - Au ja, das machen wir, komm, los!"
Die Pflastersteine waren schnell organisiert. Es war nur ziemlich schwer, sie
bis an den Bach herunter zu schleppen. Lothar trat dabei aus Versehen auf eine
Nacktschnecke, rutschte aus und fiel hin. "Au wei, dein Hosenboden sieht aus, da
wird Mama aber schimpfen." "Macht nichts, das tut sie sowieso, weil sie immer
irgendwo Dreck findet, der angeblich von mir ist."
Sie gingen zurück über die Brücke und den Hof, durch die Haustür und blieben vor
der Küchentür unschlüssig stehen. Gegenüber befand sich der Kellereingang.
"Meinst du, wir können einfach hinuntergehen?" "Probier's doch." Ernst Ludwig
drückte auf die Klinke: "Abgeschlossen." "Komm, Ernst Ludwig, lass das, ich weiß
was besseres. Da sind noch alte Kisten in dem Keller unter dem Schlachthaus."
"Woher weißt du das - ist da nicht abgeschlossen?" "Ich weiß das eben. Da ist
nie abgeschlossen, da ist es nur viel dreckiger und dunkler als in Papas
Keller." Während sie noch dastanden und überlegten, öffnete sich die Küchentür
und Ilias, der Koch, schaute heraus. "Na, ihr beiden, habt ihr Hunger? Wollt ihr
Pommes mit Ketchup zum Mittagessen?" "Na - ja", Ernst Ludwig und Lothar waren
gar nicht mehr so begeistert von diesem Angebot. Wenn sie wollten konnten sie
wochenlang von morgens bis abends Pommes essen. Sie wussten aber, dass es
samstags Eintopf als Stammessen gab und das mochten sie schon gar nicht. Also
stiegen sie die Treppe hinauf. Ernst Ludwig hatte einen Wohnungsschlüssel an
einem zusammengeknoteten langen Schnürsenkel um den Hals hängen. Damit schloss
er auf.
Erstmal ließen sie schnell die lehmverkrusteten Sandalen und Lothars Hose hinter
dem braunen Cordsofa gleich neben dem Schuhschrank verschwinden. Dann holten sie
den Schlüssel für das Badezimmer und wuschen sich dort die Hände. Wenig später
stellte Mama die großen weißen Porzellanteller mit den Pommes und den
Ketchuptüten auf den Tisch vor der Balkontür. "Ach, Lothar, war es dir zu warm
und hast du deshalb ganz alleine die kurze Hose angezogen? Das finde ich prima."
Lothar strahlte: "Kriege ich dafür etwas Süßes?" "Ja, ihr bekommt beide als
Nachtisch ein großes Eis." Meistens gab es nur ein kleines. Darum lobte Ernst
Ludwig Lothar nachdem Mama das Eis gebracht und die leeren Teller mitgenommen
hatte: "Das hast du wirklich gut gemacht, Lothar, aber komm ,jetzt holen wir die
Kiste." Lothar zog sich die dreckige Hose wieder an und beide vorsichtshalber
ihre Gummistiefel.
Sie zogen brav die Glastür hinter sich zu, stiegen die Treppe hinunter und
liefen über das Kopfsteinpflaster und den Kies zu der roten Sandsteinbank neben
dem Schlachthaustor. Dort befand sich in einem niedrigen Vorbau eine zweite,
kleinere etwas verrottete Holztür. Die Kinder schauten sich um, ob sie niemand
beobachtete, dann schoben sie die Tür auf und stiegen die Sandsteinstufen hinab
in ein dunkles Mauergewölbe. Es fiel genug Licht durch die Tür hinein, um die
Haufen von alten Kisten, Flaschen, Steinen und Brettern zu erkennen. Sie suchten
sich die beste von den Kisten, die sie erreichen konnten, aus und trugen sie
gemeinsam die Treppe hinauf. "Was macht ihr denn hier? Ihr erschreckt mir ja
meinen Benjamin! Ach, ihr habt eine Kiste, das ist aber praktisch. Stellt die
mal hin, damit ich auf meinen Benjamin aufsteigen kann." Ernst Ludwig und Lothar
stellten sprachlos die Kiste hin und warteten ab, was weiter geschehen sollte.
"Starrt mich nicht so an, ich bin der Nikolaus und der Schimmel hier, das ist
mein Benjamin. Wenn euer Koch mal ein paar Mohrrüben übrig hat, dann könnt ihr
den Benjamin gerne in seinem Stall besuchen und ihm die Rüben bringen. Ihr müsst
ihn nur immer laut ansprechen, bevor ihr zu ihm hingeht und ihn anfasst, sonst
erschreckt er sich, wie eben und beißt vielleicht oder schlägt aus, aber wenn
ihr ihn höflich ansprecht, dann ist er ganz nett. - Und wie heißt ihr? - Ihr
könnt mich ruhig Klaus nennen." Ernst Ludwig und Lothar schauten den Mann immer
noch stumm an. Sie wagten nicht, diesen kleinen, buckligen alten Mann einfach
mit "Klaus" anzusprechen. Er sah eigentlich auch nicht so stattlich aus, wie sie
sich einen Nikolaus vorgestellt hätten, eher war es vielleicht sein Knecht
Ruprecht, der sich da einen Spaß machte und auf die Kiste und von dort aus auf
das Pferd stieg. "Na, wenn ihr nicht antworten wollt, dann lasst es bleiben,
dann frage ich eben den Peter", verabschiedete sich Klaus und ritt davon. "Papa
heißt Peter. Ob der Klaus ihm was von der Kiste erzählt?" überlegte Ernst
Ludwig, "Ach, egal, wir bringen sie jetzt hinunter zum Bach."
Sie schleppten gemeinsam die Kiste den Trampelpfad neben der Brücke hinunter und
stellten sie auf dem Sandhaufen auf. Ernst Ludwig legte ein mitgebrachtes Blatt
Papier und einen Buntstift auf seinen Schreibtisch. Lothar setzte sich ihm
gegenüber auf seinen Pflasterstein und fragte: "Was steht denn da auf dem
Papier?" "Ach ja, da ist ja schon was draufgedruckt. Da steht E I N L A D U N G
und noch mehr. Ich weiß, was das ist. Das ist die Einladung zur ersten
Singstunde vom Kinderchor nach den Sommerferien. Du kommst doch auch mit,
Lothar?" "Wo du hingehst, will ich auch mitkommen. - Und was machen wir jetzt
hier?" "Wenn wir das Jagdschloss verwalten wollen, dann brauchen wir erst mal
einen Plan. Und den malen wir jetzt. - Also, hier ist die Brücke mit unserem
Büro, dadrunter fließt der Bach lang, in Richtung zum Hühnerstall. Und wenn wir
den Bach weiter raufgehen, dann kommt die Brücke mit der Straße. Und auf der
anderen Seite von der Straße fließt der Bach durch eine große Wiese. Auf der
einen Seite von der Wiese ist der Fahrweg, der zu dem großen Kiesplatz vor dem
Zeughaus führt. Das Zeughaus ist ganz lang und ganz schmal - und da oben drin
wohnt der Hausmeister vom Jagdschloss. Der Hausmeister vom Jagdschloss ist ein
Kastellan und fährt immer auf einem Rasenmäher herum und der Hausmeister vom
Reiterhof ist ein Reitlehrer, der immer auf einem Fahrrad herumfährt. - Oder
hast du Herrn Anjas schon mal auf einem Pferd gesehen?" "Nein, Papa hat erzählt,
dass der Herr Anjas nie auf ein Pferd steigt, weil er ein steifes Bein hat.
Darum hinkt er auch. Und weil er ein echter Holländer ist, fährt er den ganzen
Tag lang mit dem Fahrrad herum und lässt sich von den reitenden Damen einen
Kaffee ausgeben. - Aber der Herr Anjas verwaltet wenigstens richtig viele Pferde
in vielen Ställen und der Kastellan nur viele alte Lappen, die auf dem Dachboden
vom Zeughaus herumhängen und ab und zu mäht er mit seinem Traktor den Rasen vom
Schloss." "Stimmt das wirklich mit den Lappen?" "Ja."
"Jedenfalls wird der Fahrweg hinter dem Zeughaus zu einem Fußpfad und da dran
liegt das Haus vom Gärtner und dahinter die Gärtnerei und dann kommt nur noch
Wald" "Das stimmt nicht, da kommt erst ein trockener großer Graben mit vielen
Steinbrücken drüber und eine Kastanienallee." "Ja, aber das liegt alles schon im
Wald. Und hinter der Wiese ist ein Damm mit Bäumen drauf und dahinter ist der
Teich mit den vielen Fischen drin. Und um den Teich führt ein Weg herum. Auf der
anderen Seite vom Teich mündet der Bach ein und beim Damm ist ein Wehr und
unterhalb vom Damm noch ein winzigkleiner Teich, durch den der Bach durchfließt,
bevor er über die Wiese fließt." "Und auf der anderen Seite von der Wiese ist
eine niedrige Mauer und dahinter eine schmale Straße mit Kopfsteinpflaster, die
zum Jagdschloss führt. Und das Jagdschloss hat eine hohe Mauer, damit man nicht
auf die Baustelle laufen kann."
"Und wenn wir da nicht reinkommen, wie wollen wir das Schloss dann verwalten?"
"Ich habe doch jetzt Sommerferien und du auch bald, da haben wir genug Zeit, um
das auszuprobieren." "Jedenfalls sind wir solche Verwalter wie der Herr Anjas,
weil wir Fahrräder haben und keinen Rasenmäher." "Das erlaubt uns Mama ganz
bestimmt nicht, mit dem Fahrrad über die Chaussee zum Schloss zu fahren. Die hat
viel zu viel Angst, dass wir überfahren werden oder in den Teich fallen oder uns
im Wald verirren." "Dann müssen wir eben einen anderen Weg suchen. Vielleicht
gibt es einen unterirdischen Geheimgang?" "Wie sollen wir den finden, wenn er
geheim ist?" "Das Schloss ist doch ein altes, verlassenes Gemäuer. Vielleicht
spukt es dort? Vielleicht erscheint dort um Mitternacht eine weiße Gestalt und
winkt uns und zeigt uns den Weg?" "Aber wir sind doch auf dem Reiterhof und
nicht beim Schloss. Altes und verfallenes Gemäuer gibt es hier auch, aber kein
verlassenes. Und um Mitternacht kommt nur eine Maus heraus, die unter der
Kaffeemaschine wohnt, hat Papa gesagt, und läuft über die Theke und stellt sich
vor den Zapfhahn und macht Männchen und wartet, dass die Gäste endlich gehen und
sie die heruntergefallenen Krümel suchen kann, bevor die Putzleute kommen."
"Aber vielleicht spukt es nicht in der Reiterschänke sondern im Keller unter dem
Schlachthaus oder im Fahrhof hinter dem Schlachthaus?" "Meinst du wirklich,
Lothar, wir sollen um Mitternacht aus dem Haus schleichen und ein Gespenst
suchen?" "Ja, ich wollte schon immer mal eines sehen und ich habe auch gar keine
Angst. Wenn ich das Schlachthaus aufschließen könnte, würde ich Papas
afrikanische Schrotflinte holen, dann wären wir sogar bewaffnet." "Auf
Gespenster kann man nicht schießen, da sausen die Kugeln einfach durch und wenn
der Schädel dabei runterfällt, setzen sie ihn einfach wieder auf. Wir nehmen
lieber einen Knoblauch aus der Küche mit, der hilft auf jeden Fall gegen Vampire
und vielleicht auch gegen andere böse Geister." "Und was machen wir, wenn wir
erwischt werden?" "Das ist doch gar nicht schwierig. Wir sagen, dass wir nur
aufs Klo gehen wollten und dann ist ein großer Hund gekommen und wir sind vor
ihm weggelaufen." "Und wenn wirklich einer kommt?" "Hör auf, Lothar, du spinnst.
Der schläft dann längst."
Die Kinder legten einen großen Stein auf den schön gemalten Plan und verließen
ihr Büro. Auf dem Rückweg schaute Ernst Ludwig in die Küche. Es war vor 18 Uhr
und noch kein Koch da. So konnte er leicht eine Knoblauchknolle aus dem
Vorratsraum holen. Oben in der Wohnung setzten sich die beiden vor den Fernseher
und schauten sich solange alles mögliche an, bis es Abendessen gab und sie zum
Waschen und ins Bett geschickt wurden. Nachdem Mama hinunter in die Gaststätte
gegangen war, kletterte Ernst Ludwig aus seinem Hochbett und holte sich Papas
Wecker. Er stellte ihn auf drei Minuten vor Zwölf, deponierte ihn genau neben
seinem Kopfkissen und legte sich wieder schlafen.
Beide fuhren von ihren Kopfkissen hoch, als der Wecker summte. Blitzschnell
stoppte Ernst Ludwig den Ton. "Sollen wir wirklich?" flüsterte er. "Wenn
Geisterhunde auch Angst vor Knoblauch haben, dann will ich." "Geist ist Geist,
ich glaube, das wirkt bei allen gleich. - Dann los!" Ernst Ludwig stieg
möglichst leise aus seinem Bett und lugt vorsichtig durch den Vorhang ins
Esszimmer. "Niemand da, du kannst kommen. Mama ist bestimmt schon ins Bett
gegangen, ihre Schuhe stehen nämlich vorm Schuhschrank und das Licht ist aus."
Lothar schlich sich hinter Ernst Ludwig. Sie zogen ihre Schuhe an, nahmen die
Schnur mit dem Schlüssel vom Schlüsselbrett und öffneten behutsam die
Wohnungstür. Im Gang brannte Licht, aber es war niemand zu sehen. Aus der
Gastwirtschaft hörte man ein gedämpftes Stimmendurcheinander und Lachen.
"Na los," Lothar schubste seinen Bruder an und folgte ihm die Treppe hinunter.
Niemand war beim Zigarettenautomat oder vor den Toiletten, so konnten sie
unbeobachtet aus der Haustür schlüpfen. "Und wohin gehen wir jetzt, Lothar?"
"Na, erst mal zum Schlachthaus und gucken in den Kistenkeller." Sie überquerten
den hell beleuchteten Parkplatz und blieben kurz vor der niedrigen Kellertür
stehen. Dann fasste Ernst Ludwig Mut und öffnete sie. Ein paar Stufen stiegen
sie hinunter ins Dunkle, bis sie über Müll stolperten. Es war stockfinster. Ein
Gespenst war nicht zu sehen. "Wir hätten eine Taschenlampe mitnehmen sollen",
murmelte Ernst Ludwig. "Damit würden wir ein Gespenst bloß vergraulen", meinte
Lothar, "komm, wir schauen jetzt im Fahrhof nach." "Warst du da schon mal, weißt
du wie es da aussieht?" "Ja, da ist normalerweise kein Mensch, da ist es
ziemlich langweilig, weil nur selten jemand Kutsche fährt. Meistens ist darum
der Schlagbaum in der Einfahrt zu, aber wir können leicht drunterdurchklettern."
Sie hielten sich dicht am Gebäude im Schatten, denn sie mussten am Eingang der
Reiterschänke vorbei, wo ein große, helle Laterne in den wildwuchernden Ranken
eines lila Goldregens hing und die ausgetretenen rosa Sandsteinstufen zur grünen
Holztür beleuchtete. Die Tür blieb geschlossen. Als sie am Ende vom Schlachthaus
angelangt waren und gerade das angebaute Stallgebäude passierten, hörten sie
sich nähernde Schritte auf dem Rollsplitt im Biergarten. Die Laternen in der
niedrigen Ligusterhecke waren schon ausgeschaltet und die Stühle an den Tischen
hochgeklappt. Die Schritte waren sehr ungleichmäßig und verstummten ab und zu
für kurze Zeit. Irgendetwas schlurfte am Boden und ächzte und stöhnte
gelegentlich. "Das Gespenst!" flüsterte Lothar aufgeregt. "Meinst du, das macht
so laute Schritte?" flüsterte Ernst Ludwig zurück. Plötzlich tauchte ein kleine,
bucklige Gestalt aus dem Schatten der Kastanie im Biergarten auf und wurde vom
Mondlicht beleuchtet. "He, bin ich so besoffen, oder sind das nicht die Kinder
vom Peter?" Ernst Ludwig zog Lothar blitzschnell in den großen Busch hinter dem
Stall. "Jetzt sind sie weg, das kann ja auch gar nicht sein, ich glaube, ich
sehe schon Gespenster. - Benjamin! - Benjamin! - Benjamiiin!" Die Gestalt war
inzwischen zum Schlagbaum am Fahrhof gewankt. "Ja, wo steckst du denn, Benjamin?
Ich habe dich nicht vergessen! Ich weiß ja, ich weiß ja, du sollst im Stall
sein, wenn es dunkel wird. Es tut mir ja auch leid, dass ich so spät dran bin,
aber jetzt komm her, Benjamin. Es gibt Futter, das wartet im Stall auf dich. -
Ach, da bist du ja endlich. So komm her, ich muss doch erst mal das Seil fest
machen, damit ich dich zum Stall führen kann. - Und jetzt halt still, damit ich
den Schlagbaum aufmachen kann. - Ach du lieber Himmel, geht das schwer, ich
glaube, ich kann nicht mehr gerade stehen. - Vorsicht, Benjamin, Vorsicht! - Au
wei, das wäre beinah schief gegangen, Benjamin, gut dass du aufgepasst hast. So,
Vorsicht, jetzt probiere ich es noch einmal! - So. jetzt kannst du mitkommen,
komm wir gehen nach Hause, Benjamin. Ja, ja, es wird ja auch Zeit, komm, wir
gehen nach Hause, Benjamin. - Lauf doch nicht so schnell. Du musst so gehen wie
ich, Benjamin, oder du musst auf mich warten. Ja, so ist das gut, gehe mal ein
Stückchen vor mir, du weißt am besten, wo wir zu Hause sind. Ach du lieber
Himmel, du bist schon wieder so schnell, Benjamin. - Benjamiin!"
Ernst Ludwig und Lothar schauten vorsichtig um die Ecke vom Stallgebäude und
sahen die bucklige Gestalt und den Schimmel im Stall verschwinden. "Ist der
Nikolaus jetzt ein Gespenst oder nicht?" fragte Lothar. "Wohl eher nicht",
antwortete Ernst Ludwig, "aber komm, im Fahrhof ist bestimmt kein Geist, wenn da
der Schimmel war. Wir sollten schnell wieder in die Wohnung verschwinden, bevor
der Klaus aus dem Stall und der Papa aus der Gaststätte kommt." Die Kinder
schlichen zurück ins Haus, die Treppe hoch, schlossen die Glastür auf und zogen
sich in ihre Betten zurück. Das war auch sehr gut so, denn kurz darauf kam Papa
in die Wohnung und warf noch einen Blick ins Kinderzimmer, auf seine beiden
Jungen, die sich friedlich schlafend stellten. Ein paar Minuten später waren sie
wirklich eingeschlafen.
Am Sonntagmorgen standen sie erst auf, als sie Mama den Frühstückstisch decken
hörten. "Na, ihr Langschläfer, schaut mal, wie schön die Sonne heute wieder
scheint!", meinte sie zu den beiden. "Heute gibt es bestimmt viel Arbeit im
Biergarten, da werde ich wenig Zeit für euch haben. Soll ich die Heike anrufen,
ob sie Zeit hat, um mit euch zum Steinbrücker Teich zu gehen und Tretboot zu
fahren" "Nö, wir spielen lieber zu Hause." - "Weiß jemand wo mein Wecker ist?"
Papa erschien zum Frühstück und schaute seine beiden Söhne an. Ernst Ludwig
schaute Lothar an. Der strahlte: "Damit haben wir gestern gespielt. Aber du
brauchst keine Angst zu haben, er ist überhaupt nicht kaputt gegangen." "Dann
stellt ihn mal dort wieder hin, wo ihr ihn hergeholt habt." "Papa, hast du schon
mal ein Gespenst im Biergarten gesehen?" "Da geistern nachts alle möglichen
Gestalten herum, vor allem welche, die bevor sie ins Auto steigen schnell noch
mal in die Hecke pinkeln. Aber ein Gespenst habe ich noch nicht gesehen. - Ich
habe jetzt keine Zeit mehr, ich muss hinunter und die Gaststätte öffnen." Papa
zog seine grüne West über, steckte die Kellnerportemonnaies ein und schloss die
große Glastür hinter sich. Mama räumte inzwischen den Frühstückstisch ab, ging
dann ins Schlafzimmer, um die Betten zu machen und aufzuräumen und verließ
anschließend auch die Wohnung.
"Jetzt weiß ich wenigstens, was der Nikolaus so lange an der Hecke gemacht hat.
- Können Gespenster eigentlich pinkeln?" "Keine Ahnung, aber der Klaus ist
bestimmt kein Gespenst und sein Schimmel auch nicht. Wir können ja unten beim
Koch ein paar Mohrrüben holen und sie dem Benjamin bringen. Gespenster essen
nichts, das weiß ich. Und wenn der Benjamin die Mohrrüben frisst, dann ist er
ein echt lebendiges Pferd."
Ernst Ludwig und Lothar zogen los, holten die Mohrrüben und liefen zu dem Stall,
in dem sich die Box von Benjamin befand. Klaus war schon wieder da. "Ja, ihr
könnt ihm die Möhren geben. - Habt ihr noch kein Pferd gefüttert?" "Die anderen
Reiter wollen nichts mit uns zu tun haben. Wir dürfen nicht bei denen in den
Stall. Und wir dürfen nicht im Hof Dreirad oder Roller fahren, weil die Pferde
sich erschrecken und durchgehen könnten. Sie sitzen auf ihren Pferden und
schrien 'Aus dem Weg! Aus dem Weg!'" "Na ja, durchgehende Pferde sind schon
ziemlich gefährlich. Man kann aber auch mit Tieren und Kindern vernünftig
umgehen. - Zucker müßt ihr Pferden immer auf der flachen Hand geben, seht ihr, -
so! - Und Mohrrüben müsst ihr so hinhalten, dass Benjamin eure Finger nicht für
Möhren halten kann und reinbeißt. Das tut nämlich verflixt weh. Seht ihr - so!
Au, lass los Benjamin! - Ich hab's euch ja gesagt, wenn er reinbeißt, tut's
verflixt weh. - So, dann gebt ihm die mal alle und dann geht wieder, ich muss
ihm nämlich jetzt die Hufeauskratzen." Die Kinder taten, was ihnen Klaus gesagt
hatte.
Wieder draußen vorm Stall, stellte Lothar fest: "Benjamin ist doch ein
lebendiges Pferd. Er hat alles aufgefressen. Und der Nikolaus ist auch ein
echter Mensch, sonst hätte es ihm nicht weh getan, als ihn der Benjamin in den
Finger gebissen hat." "Und wie finden wir jetzt den Geheimgang?" "Wir müssen
eben selber suchen. Aber ich kann heute nicht, ich gehe zum Mittagessen zu
meinem Freund Jonas und bleibe da bis abends. Darum brauche ich auch die Heike
nicht." "Ach so. Hast du's gut, Lothar, mein Freund ist in den Ferien bei seiner
Oma." Lothar lief los, um Mama zu suchen und ihr Bescheid zu sagen. Ernst Ludwig
schaute ihm missmutig über den Parkplatz nach. Dabei entdeckte er Herrn Passet,
den Architekten, der einige lange Papierrollen im Arm hatte. Ihm kam eine Idee.
Ein Architekt müsste doch etwas über Geheimgänge wissen. Unschlüssig ging er zu
ihm hin. "Na, langweilst du dich?" Ernst Ludwig fiel keine passende antwort ein:
"Sie kennen sich hier doch gut aus. Gibt es zwischen dem Reiterhof und dem
Jagdschloss einen unterirdischen Gang?" "Das ist eine gute Frage. Unter
Darmstadt gibt es viele unterirdische Gänge und die ganzen Landgrafen und
Herzöge haben wohl eifrig daran mitgebaut. Ob es hier einen gibt, das weiß ich
nicht. Möglich wäre es schon, warum sollten sie ausgerechnet hier keinen gebaut
haben. - Interessierst du dich für alte Gebäude? Das Ensemble von Jagdschloss,
Zeughaus und Reiterhof ist wirklich hochinteressant, es lohnt sich, sich damit
zu beschäftigen." Ernst Ludwig wusste nicht so genau, was ein Ensemble ist, aber
er überlegte sich, dass er besser schnell mit "Ja" antworten sollte. Vielleicht
würde er so mehr über das Jagdschloss erfahren: "Meine Mutter hat mich nach dem
letzten Großherzog Ernst Ludwig genannt. Darum interessiere ich mich dafür."
"Ah, das ist wirklich ein großer Name. Kennst du die Prinzessin Margret? Das
Jagdschloss und das Zeughaus gehören ihr schon lange nicht mehr, aber der
Reiterhof. Und weil die Prinzessin schon sehr alt ist, will sie noch zu ihren
Lebzeiten den Reiterhof in Ordnung bringen lassen. Jedenfalls die Teile, die
nicht der Reiterverein hingebaut hat. - Was, glaubst du wohl, ist das älteste
Gebäude?" Das war Ernst Ludwig sonnenklar, er brauchte nur an die weißen
Holzpaneele und die vielen Mäusegänge zu denken: "Das Haus, in dem wir wohnen."
"Du hast fast recht, der alte Stall neben dem Reitlehrerbüro, das ist eigentlich
das älteste Gebäude. Weil aber dies Haus und die Reiterschänke einen Gebäudezug
bilden, werden sie demnächst zusammen renoviert werden. Dann kommt ein großes
Gerüst um dein Haus und neue gelbe Farbe auf die Wände. Und die Fensterläden
werden alle abgehängt und neu gestrichen. - Mit welcher Farbe würdest du sie
streichen?" "Na, wieder dunkelgrün." "Das habe ich auch gedacht, aber der
Denkmalpfleger ist nicht einverstanden. Er will ein helleres Lindgrün. Auch das
Gelb vom Haus wird etwas anders und das Treppenhaus wird innen renoviert, wie,
das weiß ich noch nicht. Die Prinzessin wird viel Geld dafür ausgeben müssen,
weil der Denkmalpfleger das Sagen hat. - Wenn du dich dafür interessierst, dann
kennst du das ja schon vom Jagdschloss. Das wird nun schon einige Jahre lang für
viel Geld restauriert und ist immer noch eine große Baustelle. Und im übrigen
wird es auch eine sehr seltsame Farbgebung erhalten. Hast du dir die Baustelle
schon mal angesehen?" Ernst Ludwig schüttelte den Kopf. Er wusste, dass seine
Eltern mal zu einer Besichtigung eingeladen worden waren, aber er und Lothar
waren noch nicht dort gewesen. Er kannte nur das Äußere, soweit die Sicht nicht
durch Bauzäune versperrt war. "Schau her, ich zeige dir mal die Pläne."
Herr Passet rollte auf der Motorhaube von seinem Auto einen Plan nach dem
anderen aus und erklärte Ernst Ludwig alles mögliche zum Schloss selber und zum
Reiterhof, der einmal der zum Jagdschloss gehörige Gutshof gewesen war, der die
Schlossbewohner mit Nahrungsmitteln versorgte. "Das ist erst ungefähr
fünfundzwanzig Jahre her, dass der Reiterverein hier eingezogen ist, so lange
war das immer noch ein landwirtschaftliches Gut vom Prinz Ludwig. Aber der ist
nun auch schon länger tot als du lebst und er und die Prinzessin haben keine
Kinder. Darmstadt ist keine Hauptstadt mehr und die Großherzogsfamilie ist
ausgestorben. Aber wenn die Gebäude hier alle weiterhin erhalten und genutzt
werden, dann kann so ein junger Ernst Ludwig wie du auf den guten alten Zeiten
aufbauen und vielleicht etwas draus machen." Der Hofarchitekt der Prinzessin
verabschiedete sich von Ernst Ludwig, der schnell ins Haus lief, um sich zum
Mittagessen ein Schnitzel mit Pommes servieren zu lassen, bevor der Koch den
Herd ausschaltete und sich bis zum Abendgeschäft ausruhte.
Nachdem er aufgegessen hatte, schaltete Ernst Ludwig den Fernseher ein, aber das
Programm wurde ihm schnell zu langweilig. Darum beschloss er, an den
Heiligenteich zu laufen, der zum Gutsgelände gehörte und an den die neuen Häuser
vom neuen Kranichstein angrenzten. Dort war der Lieblingsspielplatz von Lothar
und seinem Freund Jonas, der mit seiner Familie in einem der Häuser wohnte.
Vielleicht spielten sie ja etwas Interessantes.
Als er dort ankam und zwischen dem hohen Schilf die kurze Böschung zum Wasser
hinunterkletterte, um Ausschau zu halten, stand da schon wieder der Klaus mit
Reitstiefeln an und einer Angelrute in der Hand. "Was wollt ihr Jungens
eigentlich dauernd hier, das ist mein Teich." "Ich suche meinen Bruder." "Den
habe ich gerade mit seinem Kumpel weggeschickt. Deine Mutter hat mir erzählt,
dass er sich ewig an den Teich stellen kann und anschließend erzählt, dass er
ein Fisch werden möchte. Also in meiner Gegenwart werdet bitte keine Fische und
wehe ihr benutzt den morschen Kahn oder geht ans Wehr oder macht sonst
irgendwelche komischen Sachen. Da wird auch nicht drin gebadet, der Teich ist
nur zum Angeln da, für die Leute, denen ich das erlaube. Dafür habe ich ihn
nämlich gepachtet. Wenn du vernünftiger bist als dein Bruder und kein Fisch
werden willst, kannst du dir gerne einen Fisch aus dem Eimer nehmen und ihn dir
von eurem Koch braten lassen." "Ach nein danke, ich habe keinen Hunger, ich habe
gerade erst Mittag gegessen." Ernst Ludwig zog es so schnell wie möglich zurück
auf den Weg.
Dieser Weg war gesäumt von mächtigen Pappeln, Gebüsch und hohem Unkraut. Eine
der Pappeln war bei einem Unwetter über den Weg gefallen, zersägt und zur Seite
geschafft worden, wo sie nun langsam vor sich hin verrottete. Es war ein sehr
sonniger Platz, auf dem dieser Pappelstamm lag und dort entdeckte Ernst Ludwig
die beiden Freunde. Sie versuchten gerade voller Hingabe, Zauneidechsen zu
fangen, die sich auf der warmen Rinde sonnten. "Lothar, warum willst du ein
Fisch werden?" "Fische können von alleine schwimmen, ich nicht, ich muss das
erst lernen. - Jetzt hast du uns mit deinem Schatten die Eidechse verjagt, fast
hätten wir sie gehabt." "Der Klaus ist ein komischer Mann." "Du hast das beste
gar nicht gesehen, Ernst Ludwig, wie der Lothar zu mir nach Hause gekommen ist,
da ist der Mann auf seinem Schimmel über die Grünanlage zwischen den Häusern
galoppiert und hat den Benjamin über Bänke und Schranken springen lassen. Die
Leute sind nur so zur Seite gesprungen," warf Jonas ein. "Und weil wir nicht
mehr am Teich spielen durften, haben wir die Eidechsen gejagt. Aber die wissen
jetzt, dass wir da sind, die kommen so schnell nicht mehr aus ihren Verstecken
heraus. - Außerdem muss ich eigentlich nach Hause. Also, tschüss, Lothar, bis
morgen im Kindergarten."
"Komm, Lothar, wir gehen auch nach Hause." Diese Strecke war ein Teil von Ernst
Ludwigs Schulweg. Während der Schulzeit kam er täglich an dem Teich vorbei,
überquerte dann die Straße, passierte drei Häuser rechts am Weg, den
Dressurreitplatz und die kleine Reithalle links am Weg und ging um die große
Reithalle herum auf einen öffentlichen Waldweg, den Matratzenweg, der direkt am
Waldrand entlang auf das Jagdschloss zuführte. Soweit mussten die beiden Jungen
nicht gehen. Nachdem sie noch an der Rückseite von einigen Schuppen und Ställen
entlanggewandert waren, bogen sie rechts ein und standen im Innenhof vom
Reiterverein. Der Fußweg führte weiter direkt an der Hecke vom Biergarten
entlang und wurde am engsten zwischen Schlachthaus und Reiterschänke. Ernst
Ludwig schaute kritisch den vollen Biergarten an. "Lothar, das hat noch keinen
Zweck, nach Hause zu gehen, es gibt noch nichts zu essen. Komm, wir gehen lieber
noch ein bisschen in den Wald und pflücken uns ein paar Himbeeren."
Sie verließen also wieder den Innenhof, überquerten den Matratzenweg und gingen
geradeaus weiter auf einem Reitpfad. Der Wald machte hier einen rechtwinkligen
Knick und gab Raum für eine große Wiese, die bis an den Straßenrand reichte. Auf
der anderen Seite der Chaussee verlief eine Mauer als Abgrenzung des
Schlossgeländes. Der Reitpfad führte genau am Waldrand entlang bis zum Ende der
Wiese, dort bog er nach links in den Wald ab. Geradeaus wurde der Weg durch den
Zaun des Forsthauses versperrt. Hinter dem Forsthaus, und auf der anderen
Straßenseite hinter dem Jagdschloss, war nur Wald, ganz viel Wald, das wusste
Ernst Ludwig. "Dahinten am Zaun beim Förster gibt es die meisten Himbeeren." Sie
wanderten über den holprigen, von vielen Pferdehufen aufwühlten Weg. Dort wo der
Pfad in den Wald abbog rankten wirklich viele Himbeerbüsche und es hingen auch
noch ziemlich viele reife Früchte in Greifhöhe daran. Ernst Ludwig und Lothar
bedienten sich, bis sie plötzlich im Dickicht vor sich ein Rascheln, Grunzen und
Schnaufen vernahmen. "Ein Gespenst", flüsterte Lothar und zog sich eilig zurück
auf die Wiese, gefolgt von Ernst Ludwig, der es nicht so eilig hatte. "Keine
Angst, wir sind nicht alleine, da kommt eine Kutsche." Und schon hörten sie:
"Aus dem Weg, aus dem Weg, der Wagen ist neu und wird eingefahren!" Die Kinder
schauten zu, wie die Kutsche um die Ecke in den Wald einbog. Auf einmal schoss
aus dem Himbeergestrüpp etwas schreiendes Schwarzes hervor und lief vor dem
Wagen her ins Dunkel des Waldes. Das Pferd, das sowieso schon ziemlich schnell
lief, preschte in wildem Galopp los, die Kutsche schaukelte samt Kutscher auf
dem holprigen Weg wild hin und her und verschwand dann auch mit viel Getöse im
dunklen Wald. Die Kinder liefen los in Richtung Reiterhof.
Als sie merkten, dass es rings um sie herum still war und sie niemand verfolgte,
wurden sie langsamer, denn es war sehr schwierig auf dem Reitweg schnell zu
laufen ohne zu stolpern. Lothar sah den Zaun vom Dragonergrab und meinte: "Wir
machen erst mal Pause dadrin, da ist eine Bank, wo wir uns draufsetzen können. -
Du kannst doch lesen, Ernst Ludwig, was steht eigentlich auf dem Schild am
Grab?" "Dass der Dragoner nicht im Krieg gefallen ist, sondern vom Pferd und
dabei hat er sich das Genick gebrochen." "Weil er besoffen war?" "Keine Ahnung,
nein, ich glaube nicht, er ist bestimmt sehr heldenhaft vom Pferd gefallen. Und
einmal im Jahr kommen seine noch lebenden Regimentskameraden mit einem Bus und
ihren Witwen und trinken einen Schnaps zum Gedenken, hat Mama erzählt, und dann
fahren sie wieder ab. - Aber komm, wir müssen bestimmt nach Hause, die Sonne
wird schon orange. Und vorne an der Schranke zum Hof steht der Karl und winkt
uns."
"He, ihr beiden, wo habt ihr denn gesteckt, eure Mutter sucht euch schon!" "Wir
haben nur ein paar Himbeeren gegessen." "Das sieht man. Aber so weit dürft ihr
nicht in den Wald hineingehen, nachher verlauft ihr euch noch, das ist
gefährlich." "Das wissen wir, dass es im Wald gefährlich ist. Aus dem Gebüsch
ist ein schwarzes Gespenst gekommen und hat laut gebrüllt und die Kutsche
angegriffen. Vielleicht war das ein Höllenhund?" "Na, ich glaube eher, ein
Wildschwein. So und das hat dem Dr. Röck das Pferd scheu gemacht? Aber
Wildschweine können schon gefährlich werden ,darum ist es besser, wenn ihr nicht
alleine in den Wald geht. Und Pferde mögen Schweine überhaupt nicht, das ist
schon wahr." Karl war Pferdeknecht und Stallmeister und riesig hoch und von
ungeheuren Umfang und was er sagte, galt besonders für Lothar, den er
bevorzugte, viel. Darum begaben sich die beiden sofort zu ihrer Mutter.
"Habt ihr euch so lange mit dem Jonas am Teich herumgetrieben? Na, macht nichts,
hier war sehr viel los und jetzt ist das meiste aufgegessen, wie gut, dass
morgen Ruhetag ist. Ich habe euch Cornflakes und Milch auf den Tisch in der
Diele gestellt, das mögt ihr doch sowieso lieber abends essen als morgens. - Es
sind ziemlich dicke Wolken am Himmel, vielleicht kommt ein Gewitter und
vertreibt die letzten Gäste aus dem Biergarten, dann kann ich zu euch hoch
kommen und ein Märchen vorlesen." "Au ja, das Märchen, von einem, der auszog,
das Fürchten zu lernen oder 'Die zwei Brüder'!"
Ernst Ludwig und Lothar liefen nach oben in die Wohnung, aßen ihre Cornflakes
mit Milch und gingen anschließend einer nach dem anderen ins Bad. In ihrem
Kinderzimmer war es sehr warm, darum beschlossen sie, vor dem Schlafengehen
frische Luft hereinzulassen und öffneten die Balkontür. Die Wolken war noch
dichter geworden. Es war jetzt so dunkel draußen, dass sich die große Kastanie
im Biergarten kaum noch vom Himmel abhob. Die Laternen in der Hecke und die
Windlichter auf den Tischen waren die einzige Beleuchtung. Die Leute an den
Tischen lachten und unterhielten sich. "Wenn Mama nicht zu uns kommen kann, dann
können wir uns doch selber eine Geschichte erzählen,"meinte Lothar. "Au ja, fang
an!" Lothar hatte viel Phantasie und legte los und Ernst Ludwig ergänzte immer
mal zwischendurch. Sie ließen das Licht aus, setzten sich genau in den Türrahmen
und schauten zwischen den Lücken in der Holzbalustrade nach unten.
Plötzlich pfiff ein kurzer Windstoß über den Hof und wirbelte eine Menge Sand
auf. Bald folgte ein zweiter und ein dritter und ein Grummeln tönte vom Wald
herüber. Papierservietten sausten ein Stück nach oben und segelten sich
entfaltend oder drehend in die Hecke. Bierdeckel, die auf Bier- und Colagläser
gelegt worden waren, hoben ab, rollten vom Tisch und unter Tische und Stühle.
Vögel krächzten verschlafen in den Bäumen und in den Ställen wurden Pferde
unruhig. Von überall wurde Gerlinde, die Bedienung, herbeigerufen. Sie konnte
gar nicht schnell genug abkassieren, vor allem, weil sie nach den
heruntergefallenen Bierdeckeln suchen musste, auf denen Striche für die Anzahl
der Getränke gemacht worden waren. Mama rannte inzwischen mit einem Tablett hin
und her und räumte Windlichter, Gläser und Teller ab und fing zwischendurch ein
paar von den Papierservietten ein. Es grummelte immer lauter und schallte von
den drei mit Gebäuden bestandenen Seiten des Innenhofs wider. Ernst Ludwig und
Lothar hörten ein Auto nach dem anderen auf der anderen Seite vom Haus abfahren.
Ein Teil der Leute verschwand auch in Richtung Matratzenweg, um zu Fuß nach
Hause zu laufen. Nur ganz wenige ließen sich vom Wetter nicht beeindrucken und
blieben auf einer Bierzeltgarnitur direkt an der Hauswand sitzen bis die ersten
großen Tropfen fielen. Dann begaben sie sich nach drinnen und ließen, wie
zufällig, ihre leeren Gläser auf den Deckeln mit den vielen Strichen stehen. Die
Bedienung kannte ihre Gäste. Sie hatte längst auf jeden Deckel einen Namen
geschrieben und trug sie ihrer Stammkundschaft hinterher. Zuletzt war nur noch
Mama im Garten. Sie leerte die Aschenbecher aus, legte die rotweiß karierten
Tischdecken zusammen und klappte die Stühle hoch. Schließlich brachte sie
Tischdecken und Aschenbecher ins Trockene und hängte noch die Tafel neben dem
Hintereingang ab, auf die sie mit Kreide geschrieben hatte "Käsekuchen Stück 3,-
DM". Diesen Spruch kannten Lothar und Ernst Ludwig auswendig.
Jetzt klatschten die Tropfen in schneller Reihenfolge auf das grüne Balkondach
über dem Eingang und der Wind rauschte gewaltig in den Bäumen am Waldrand.
Blitze zuckten am Himmel und beleuchteten die nassen Blätter von der Kastanie
und die Dächer von den Gebäuden ringsum. Die Kinder schlossen die Balkontür und
kletterten im Dunklen in ihre Betten. Das Wetter war so schön gruselig, da
wollten sie kein Licht anmachen. "Wie gut, dass wir uns selber eine Geschichte
ausgedacht haben. Jetzt ist es schon so spät, dass Mama bestimmt kein Märchen
mehr vorliest", meinte Lothar noch, bevor sie beide einschliefen.
Am nächsten Morgen wurden sie von Mama geweckt. "Lothar, anziehen, es geht in
den Kindergarten!" "Darf ich heute wieder beim Jonas zum Mittagessen bleiben?"
"Hat das denn seine Mutter erlaubt?" "Ja, sie ist nämlich froh, wenn er mit mir
spielt und nicht mit seinen beiden jüngeren Brüdern streitet." "Na gut." Zum
Frühstück gab es Mamas berühmten Käsekuchen. Vom Sonntag waren ein paar Stücke
übriggeblieben. Anschließend fuhren sie alle mit dem Auto los. Lothar stieg beim
Kindergarten aus. Sie fuhren gleich weiter zum Großeinkauf, um die am Wochenende
verbrauchten Vorräte für die Gaststätte wieder zu ergänzen. Mama meinte. "Wir
können in der Cafeteria vom Supermarkt nebenan Mittag essen, dann brauche ich
nicht die Gaststättenküche in Betrieb zu nehmen." Ernst Ludwig mochte zwar
lieber mal etwas essen, was Mama selbst gekocht hatte, zum Beispiel Pfannkuchen
oder Milchreisauflauf oder Grießbrei mit Blaubeeren, aber ohne Lothar war das
nur halb so schön, darum war er einverstanden. "Wann fahren wir denn mal wieder
zu den Kletterfelsen?" "Wenn wir wieder etwas mehr Zeit haben." "Also nie. Im
Winter macht das keinen Spaß und außerdem muss ich dann wieder in die Schule."
Sie hatten sehr früh gegessen und nun stand Ernst Ludwig im Hof und überlegte,
ob er alleine nach einem Geheimgang suchen sollte oder lieber ins Büro unter der
Brücke gehen und in seinen Plan schreiben, was ihm der Hofarchitekt erzählt
hatte. Er entschied sich für das Büro. Als er dort ankam, sah er, dass alles
unangerührt war und der Bach noch weniger Wasser führte. Zuerst hatte er gar
nicht so richtig Lust, etwas aufzuschreiben und zu zeichnen, aber als er erst
mal so richtig dabei war und sich an alles erinnerte, was gesagt worden war,
fiel es ihm nicht mehr schwer. Als er fertig war schaute er nach Wolletje und
Bolletje und den Hühnern und brachte ihnen Rohkostabfälle vom Sonntag. Während
er noch am Zaun stand und zuschaute, wie sich die Tiere um Salatblätter und
Karottenschalen stritten, kam Lothar angelaufen. "Ach, da bist du. Jonas ist mit
seiner Mutter und seinen Brüdern zur Oma ans Böllenfalltor gefahren. Da konnte
ich nicht mit, darum bin ich jetzt hier." "Das ist gut, dann ist es nicht ganz
so langweilig. Gestern, als du beim Jonas warst, habe ich mit dem Herrn Passet
das Jagdschloss besichtigt und auch einiges über den Reiterhof erfahren. Das
habe ich gerade eben in unserem Büro aufgeschrieben. Es ist so viel, ich glaube
wir brauchen bald einen Aktenordner." "Vielleicht gibt Papa uns einen ab. Oder
wir können noch eine Kiste als Aktenregal holen. - Hat er auch etwas über
Geheimgänge erzählt?" "Darüber wusste er leider nichts, aber er hält es durchaus
für möglich, dass es welche gibt. Die Darmstädter haben zu allen Zeiten
unterirdische Gänge gebuddelt für die verschiedensten Zwecke, früher zum
Beispiel um Eiskeller zu haben, weil es noch keine Kühlschränke gab und heute um
Autos darin zu parken und fahren zu lassen." "Und wo haben sie früher das Eis
her gehabt?" "Im Winter, wenn der Heiligenteich zugefroren war, haben sie ihn in
Eisblöcke zerhackt und die haben sie möglichst weit unterirdisch hingelegt, wo
die Sonne die Erde nicht erwärmt und dort ist das Eis nur ganz langsam getaut.
Wenn genug Eis da war, dann hat es bis ans Ende vom Sommer gehalten und die
Leute hatten immer ein kühles Bier und konnten sich Eiskrem herstellen." "Aber
Mama und Papa haben nur Kühl- und Gefrierschränke und nicht noch irgendwo einen
Eiskeller, wo sie das gefrorene Wasser vom Heiligenteich reinlegen, oder?"
"Nein, die haben nur den Bierkeller und da werden die Fässer in einem großen
Kühlschrank gekühlt. Aber der Keller liegt ziemlich tief und ist sehr alt, da
können wir zuerst nach einem Geheimgang suchen. Der Herr Passet hat nämlich
gesagt, dass das Herrenhaus zuerst nur einstöckig war und diese Hausteile sind
ziemlich alt. Das sieht man an den mordsdicken Mauern, so dicke Mauern baut man
schon lange nicht mehr. Unser Stockwerk und das Stockwerk, wo die Dachstube von
der Küchenhilfe drin ist und der große Dachboden dadrüber sind erst später
draufgebaut worden." "Ernst Ludwig, dann lass uns gleich nach dem Geheimgang
suchen. Mama und Papa sind nämlich mit dem Auto weggefahren, weil sie noch etwas
besorgen wollen und ich weiß genau, wo alle Schlüssel sind, auch der vom
Bierkeller." "Können wir diesmal eine Taschenlampe mitnehmen?" "Na klar, wir
suchen ja jetzt selber und müssen keinem Gespenst mehr folgen."
Sie liefen zurück in die Wohnung und holten den Schlüssel für die Küchentür. Von
der Küche aus gelangte man zuerst in den Thekenbereich. Lothar ging zielstrebig
zur Kaffeemaschine, die heute ausgeschaltet war. Daneben stand, ganz an die Wand
geschoben, ein kleines ovales Körbchen mit viel Krimskrams drin. Er schaute
nach, aber dort war der Schlüssel für den Keller nicht. Das störte ihn nicht
weiter. Er dreht sich nach rechts. Dort stand das Telefon. An der Wand hinter
dem Telefon befand sich eine kleine, runde, schwarze Dose, mit einem Hebel dran,
den man nach links oder rechts schalten konnte. "Das ist der Umschalter für das
Telefon. Heute ist es nach oben in die Wohnung geschaltet. Siehst du, Ernst
Ludwig und unter dem Schalter hat Papa noch so ein Körbchen und da ist der
Schlüssel drin - und wenn du mal brauchst, da sind auch immer Kugelschreiber und
Blöckchen." "Lothar, woher weißt du das alles?" "Och, wenn ich mir mal bei Papa
was zu trinken hole, passe ich eben genau auf. - Die Taschenlampe liegt im
Sicherungskasten und der ist gleich hier neben dem Hintereingang." "Das weiß
ich, das sind nämlich auch die ganzen Lichtschalter drin, die Mama morgens
anschaltet, bevor sie die Tische entkrümelt und aufräumt. Aber komm, wir wollen
in den Keller, bevor Mama und Papa wieder zurück sind."
Die Kellertür lag gleich gegenüber von der Küchentür und ließ sich sehr leicht
aufschließen. Das Licht funktionierte, nur die Stufen waren hoch und steil und
viele. Sie befanden sich in einem richtigen Kellergewölbe mit einem
Einwurfschacht für die Bierfässer, der jetzt natürlich verschlossen war. Die
Beleuchtung war nicht besonders gut und im Gegensatz zu der sommerlichen Hitze
draußen war es feuchtkalt. Sie musterten aufmerksam den Fußboden und die Wände.
Ganz hinten an der Wand, gegenüber von der Treppe, standen viele Holzkisten,
gefüllt mit vollen und mit leeren Weinflaschen. Die Kinder versuchten, sie etwas
zur Seite zu schieben, um die Rückwand genauer betrachten zu können. Sie
leuchteten mit der Taschenlampe in jeden Winkel. In dieser Wand gab es eine
Stelle, die eindeutig nachträglich zugemauert worden war. Sie klopften an den
Steinen, aber es klang nirgends geheimnisvoll hohl. Dann versuchten sie, an den
Steinen zu ziehen oder zu drücken, aber es bewegte sich nichts. Schließlich
nahmen sie allen Mut zusammen und traten dagegen und rammten mit den Schultern
dagegen, wie sie es oft in Filmen im Fernsehen gesehen hatten, aber es geschah
einfach nichts. Enttäuscht gaben sie auf und verließen den Keller wieder. Lothar
schloss ordentlich alles ab und legte die Schlüssel zurück.
"Wo können wir denn noch nach einem Geheimgang suchen?" fragte er. "Im Keller
unter dem Schlachthaus. Weitere Keller oder unterirdischen Räume kenne ich auf
dem Reiterhof nicht - und selbst wenn es noch welche gibt, wir dürften bestimmt
nicht hinein. Wollen wir gleich hingehen?" "Ja, dann wissen wir wenigstens
endlich, ob es einen Geheimgang gibt oder nicht." "Diesmal nehme ich aber meine
eigene Taschenlampe mit. Die ist oben in dem Kästchen, das als Nachttischersatz
am Kopfende von meinem Hochbett hängt." Ernst Ludwig kletterte auf sein Bett und
probierte die Taschenlampe aus. "Sie funktioniert noch. Denk mit dran, wenn wir
zurück sind muss ich sie wieder aufladen."
Als sie aus der Haustür traten, fuhren gerade Mama und Papa mit dem Auto vor und
öffneten die Heckklappe, um den Einkauf auszuladen. "Hallo, Lothar, du bist ja
schon wieder da. - Wollt ihr ein Eis haben?" "Nachher, jetzt wollen wir erst mal
spielen." Ernst Ludwig und Lothar schauten sich an und trauten sich nicht, zum
Keller beim Schlachthaus zu gehen. "Wisst ihr nicht, was ihr spielen wollt? Dann
helft mir, die Blumenkästen zu gießen. Bei der Hitze müsste ich sie eigentlich
zweimal am Tag gießen und heute habe ich es überhaupt noch nicht getan." Die
Kinder willigten ein und gossen sich und die Blumen ordentlich nass.
Anschließend ließen sie sich dann doch ein Eis geben und setzten sich in den
leeren Biergarten, um es aufzuessen. Mama war zurück ins Haus gegangen, um die
Tischdecken zu waschen und zu trocknen, damit sie für die nächste Woche wieder
einsatzbereit waren.
"Jetzt gehen wir aber in den Keller", beschloss Lothar. Sie leuchteten alle
Wände und Winkel ab, aber dieser Keller war noch langweiliger und dreckiger als
der Bierkeller. Schließlich stiegen sie enttäuscht zurück ans Tageslicht und
nahmen eine leere Kiste als Aktenregal mit. Bevor sie damit über den Hof gingen,
schauten sie sich vorsichtig um, ob da nicht wieder ein Reiter war, der eine
Aufsteighilfe brauchte. Da aber montags nicht nur Ruhetag in der Gaststätte,
sondern auch Stehtag für die Pferde war, ließ sich niemand blicken. Nachdem sie
die Kiste unter der Brücke aufgestellt hatten, lief Lothar in die Wohnung, um
Papa nach einem Aktenordner zu fragen. "Frag' Mama, die ist für so etwas
zuständig." Papa saß an seinem Schreibtisch und wollte sich nicht beim
Durchsehen der Rechnungen stören lassen. Mama räumte einen alten Ordner leer und
schenkt ihm den "für euer Büro". "Es ist so schönes Wetter, wollen wir heute
abends eine Fahrradtour machen und ein Picknick mitnehmen? Frage mal Ernst
Ludwig." Papa hörte das und rief aus seinem "Büro" herüber: "Aber ohne mich, ich
will nachher mal in aller Ruhe baden und anschließend bei einem Kollegen ein
Bier trinken gehen."
Lothar lief zurück zu Ernst Ludwig unter die Brücke und brachte ihm den
Aktenordner und die Botschaft von Mama. "Au ja, wir können drüben hinter dem
Jagdschloss am Backhausteich unser Picknick machen!" Ernst Ludwig war
hellbegeistert und Lothar mit ihm. Sie eilten gemeinsam zurück zu Mama und
teilten ihr ihren Wunsch mit. Sie fand das eine ausgezeichnete Idee und so
holten sie ihre drei Fahrräder aus dem Schlachthaus und packten Mamas
Satteltaschen voll mit belegten Brötchen, Schokoriegeln, Limonadenflaschen und
Papierservietten.
Sie überquerten die Chaussee, fuhren über den großen Parkplatz vor dem Zeughaus,
bogen links in den Weg zwischen Wiese und Gärtnerei ein und radelten dann einmal
links herum um den Backhausteich. Mama musste ab und zu anhalten, damit die
Kinder mit ihren kleineren Rädern nachkamen. Dann zeigt sie ihnen die Reiher die
ganz still im See standen und die Graugänse und die verschiedenen Entensorten,
die sich im Wasser tummelten oder erklärte ihnen die verschiedenen Baumarten,
die rechts und links vom Weg wuchsen und die Kräuter dadrunter. Einige Pflanzen
kannten die Kinder schon. Ab Mitte April sammelten sie hier oft Waldmeister für
die Maibowle, die in der Reiterschänke verkauft wurde. Und wo es Maiglöckchen
und Veilchen gab, wussten sie auch ganz genau. Nur Knoblauchsrauke und
Brennnesseln waren nicht so ganz ihr Geschmack.
Schließlich stellten sie ihre Fahrräder neben einer Bank an der Schlossmauer ab,
von wo aus sie nur über den Weg gehen mussten, um ein paar Stufen zu erreichen,
die in das Wasser des Backhausteiches führten. Lothar nahm sich ein belegtes
Brötchen und kauerte sich auf die unterste Stufe, um nachzuschauen, ob Fische im
Wasser waren. Kaum hatte er das getan, fielen Scharen von Enten und Graugänsen
ins Wasser ein und schwammen um die Wette auf ihn zu. Alle wollten etwas von
seinem Brötchen ab haben und die mutigsten schnappten sogar danach. Lothar gab
gerne etwas ab und warf einige Brocken ins Wasser. Bevor es das Federvieh sich
aufsammeln konnte, hatten große Fische zugeschnappt. Lothar und Ernst Ludwig
fanden dieses wilde Getümmel, Platschen und Quaken toll und so dehnte sich das
Picknick so lange aus, bis kein Krümel mehr übrig war. Die Sonne stand nur noch
kurz über den Hochhäusern vom neuen Kranichstein, die am Horizont hinter den
Bäumen und Feldern zu erkennen waren. "Fahren wir jetzt wieder zurück, Mama?"
"Nur wenn ihr unbedingt wollt. - Gestern habt ihr mich gebeten, ein Märchen
vorzulesen, aber daraus ist nichts geworden. Heute habe ich das Märchenbuch
eingepackt und mit hierher genommen. Soll ich euch die Geschichte "Die zwei
Brüder" von den Brüdern Grimm vorlesen?" "Au ja." Mama holte ihr altes
Märchenbuch aus der Fahrradsatteltasche und begann vorzulesen.
Das Märchen war ziemlich lang und zur Freude von Ernst Ludwig und Lothar kamen
ein großer Wald und ein Schloss darin vor. "Gibt es ein Märchen über das
Jagdschloss?" wollten sie wissen. "Ich kenne keines. Aber es gibt eine Sage über
Darmstadt, die heißt "Das Frankensteiner Eselslehen". Soll ich sie euch
erzählen?" "Na klar!" "Also vor langer, langer Zeit, noch bevor das Jagdschloss
gebaut worden ist, da gab es auf der Burg Frankenstein, die im Süden von
Darmstadt liegt - ihr seid selber schon auf den Ruinen herumgeklettert - die
Grafen von Katzenelnbogen. Die hielten auf ihrer Burg einen Esel, für den ein
Darmstädter Bürgerausschuss, der damals so etwas wie das Polizeipräsidium war,
Stallgeld bezahlte und Futter lieferte. Dieser Esel wurde nämlich für die
Gerichtsbarkeit gebraucht.
In Darmstadt hat es anscheinend schon immer sehr durchsetzungsfähige Frauen
gegeben, was den Männern, besonders den gut situierten Bürgern in diesem
Ausschuss, nicht gefallen hat. Jedenfalls - immer, wenn eine Frau ihren Mann
geschlagen hat, dann wurde ein Bote nach dem Frankensteiner Esel geschickt und
die Frau musste auf dem Esel durch die ganze Stadt reiten, der von dem Boten
geführt wurde. Aber das Beste an der Geschichte ist: wenn es einen echten Kampf
zwischen Mann und Frau gegeben hatte, also beide drauflos geprügelt haben, dann
musste der Mann den Esel mit seiner Frau drauf durch die Stadt führen und alle
haben sich über ihn lustig gemacht. Nur leider, wenn der Mann die Frau
geschlagen hat, das war erlaubt und wurde nicht bestraft. - Manchmal, wenn ich
in der Gaststätte so Geschichten erzählt bekomme, denke ich, das ist heute noch
so und man sollte so einen Esel wieder anschaffen und die Männer draufsetzen,
die ihre Frauen prügeln. Wahrscheinlich würde der Esel unter Arbeitsüberlastung
zusammenbrechen." "Und warum gibt es diesen Esel nicht mehr?" "Wie meistens,
ging es ums Geld. Die Bessunger haben ihn besonders oft in Anspruch genommen und
nichts dafür bezahlt. Die Darmstädter wollten nicht ihre Rechnung übernehmen.
Daraufhin haben die Frankensteiner den Esel für sich behalten und ihn nicht mehr
für die Gerichtsbarkeit ausgeliehen."
Als Mama fertig war, schaute sie zum Himmel. Der war zwar noch hell, aber die
ersten Sterne funkelten schon. "Heute gibt es kein Gewitter. Trotzdem sollten
wir nach Hause fahren. Seht, unter den Bäumen ist es ganz dunkel geworden und
die Graugänse fliegen herum und versuchen, den Mond zu besuchen. Schade, dass
die Zeit für Jasminblüten und Glühwürmchen vorbei ist, dann wäre es perfekt
romantisch." "Ja, und schade, dass der Kahn am Wehr eingeschlossen ist, sonst
könnten wir bei Mondschein über den Teich rudern, wie du es auf unserem
Badezimmerrollo gemalt hast. - Was malst du zur Zeit eigentlich für ein Bild,
Mama?" "Oh, das steht erst mal in der Ecke bis ich wieder Zeit habe. Das soll
eine nackte Frau auf einem isabellfarbenen Pferd werden, die hier am
Backhausteich bei Mondschein entlangreitet. Die Männer vom Stammtisch beschweren
sich immer über den nackten Jüngling auf dem Pferd an der Einfahrt zum
Reiterhof. Als Ausgleich werden sie diese nackte Dame erhalten. Mal sehen, was
sie dazu sagen."
Mama, Ernst Ludwig und Lothar schwangen sich auf ihre Fahrräder und radelten
heimwärts. Die Kinder gingen glücklich ins Bett. Sie waren heute beim Schloss
gewesen, hatten ein Märchen gehört, in dem Geister vorkamen und hatten ihre Mama
bei sich gehabt!