Anneliese Andriessen
Mich umgaben die bleichen Wände des Arbeitsamtes meiner Heimatstadt
Darmstadt. Ein langer Gang mit geschlossenen grauen Türen führte von mir weg.
Darin standen Frauen in meinem Alter - und eben ich. Ja, da stand ich nun mit
meinem frisch erworbenen hochakademischen Diplom. So lernte ich das befreiende
Öffnen der Türen nach langem Suchen und Warten und die erstaunten Blicke kennen.
- 'Was ist denn das für ein Studiengang - noch nie gehört. - Sie sind
Bodenkundlerin und haben sich mit Luftbildauswertung beschäftigt.
Hochinteressant - nur, so etwas wird in unserer Stadt bestimmt nicht gebraucht.
Aber wir melden Ihre Daten gerne weiter an die zentrale Arbeitsvermittlung. -
Und einen Flugschein haben Sie. Da müssen Sie ja reiche Eltern haben. Na, die
brauchen Sie auch, denn Geld bekommen Sie keines. Sie haben ja noch nie
gearbeitet. Vor allem füllen Sie aber erst einmal alle Formblätter aus, und
schreiben Sie einen tabellarischen Lebenslauf, und bringen Sie Passbilder mit. -
Auf Wiedersehen.' - Am Wiedersehen lag mir nichts, da ich aber voraussetzte,
dass es doch geschehen würde, verabschiedete ich mich mit der selben Floskel und
sprang die Treppenstufen hinunter, sichere, federnde Schritte übend, nur um vor
dem Gebäude wieder zu warten, diesmal auf den Bus.
Wie ich, die zurückliegenden Jahre überblickend, nun feststellen kann, war mir
vor kurzem der einzige gescheite Job, der mir je angeboten wurde, nicht zuteil
geworden, weil ich keinen Führerschein besaß. Diese Absage hatte meine Eltern
dazu bewogen, mir meine Fahrstunden zu finanzieren. Ich setzte mich auf den
Bordstein und hing Erinnerungen an schönere Zeiten nach. In die Zukunft konnte
ich nicht schauen, sonst hätte ich auf der anderen Straßenseite ein viel
größeres und viel schöneres Arbeitsamt gesehen, in dem ich auch dasitzen und
warten würde.
Vor einem halben Jahr hatte ich mein Studium erfolgreich abgeschlossen, wie mir
die drei Professoren nach meiner letzten mündlichen Prüfung feierlich
versicherten und hatte die restlichen Monate des Semesters verbummelt, ohne
recht zu wissen, was nun werden sollte. Von alleine bot sich nichts an.
Bodenkunde war kein gefragtes Arbeitsgebiet. Wenn ich so die Werdegänge meiner
Studienfreundinnen betrachtete, lockte es mich nicht, irgendeiner nachzueifern.
Selbst den männlichen Kollegen ging es nicht unbedingt besser.
Als mir die Miete für meine Studentenbude zu teuer wurde, kehrte ich nach Hause
zu meinen Eltern zurück, wo ich mein eigenes kleines Zimmer all die Jahre über
behalten hatte. Ich trat dem Naturwissenschaftlichen Verein bei und meine
Fahrstunden an.
Das Haus meiner Eltern lag am 'Wendehammer' eines schmalen Weges, der am
Hinterausgang vom Marienhospital entlangführte. Die Einfahrt in die Straße wurde
von zwei Granitblöcken auf der einen Seite eingeengt, wohingegen auf der anderen
Seite unter zwei ausladenden Kastanienbäumen ein Denkmal an das längst nicht
mehr vorhandene Dorf Klappach erinnert. Für eine Großstadt ein wildromantischer
Straßenbeginn, den ich jedes Mal genoss, wenn ich ihn passierte, denn ich dachte
an das Entsetzen, das einen Straßenplaner hier packen musste.
Diesmal bog ich zu Fuß in unsere Straße ein und blieb in dem Rondell vor unserer
Gartentür stehen. Das amtliche Schild 'Parken im Wendehammer verboten' führte
ein so verborgenes Dasein unter Geißblatt und wildem Wein, dass es niemand
beachtete. In der Mitte des Rondells hatte das Gartenbauamt auf Anregung der
Anwohner einen von niedrigem Buschwerk eingefassten Baum pflanzen wollen. Jedes
Jahr im Mai oder Juni kamen ein paar Gärtner und setzten dort eine junge Eiche,
und jedes folgende Frühjahr meldeten die Anwohner wieder, der Baum sei
eingegangen. Irgendwann gab das Gartenbauamt auf oder vergaß auch ganz einfach,
einen neuen Baum dort auszusetzen. Ein Jahr später reckte ein wilder Kirschbaum
seine kärglichen Ästchen aus dem drumherum wuchernden Gestrüpp. Die Baumfreunde
ringsum schütteten fleißig Wasser darauf, er setzte sich durch und erfreute uns
nun jedes Frühjahr mit seinen Blüten seit über 25 Jahren.
In der Küche erwartete mich meine Mutter mit einem Kirschmichel und der für mich
heute eingetroffenen Post. Außer ein paar Absagen von Firmen und Instituten, bei
denen ich mich beworben hatte, befand sich dabei nichts. ‚Ich hatte einen dicken
Ordner mit Absagen angelegt, inzwischen mit der sportlichen Stückzahl von
einhundertsechsundsiebzig. Mir fiel so allmählich niemand mehr ein, bei dem ich
mich überhaupt bewerben könnte. Meine Mutter meinte nur: „Dann frage eben mal in
deinem Naturwissenschaftlichen Verein, vielleicht weiß da jemand etwas.“
Am übernächsten Morgen, es war ein kühler, trockener Sonntagmorgen, stand ich
ausnahmsweise schon vor sieben Uhr auf. Mit dem geübten. federnden Laufschritt
eilte ich in dreißig Minuten bis in die Stadtmitte zur Ruine vom alten Theater
(das war eindeutig die billigste Art der Fortbewegung), von wo die Exkursion des
Naturwissenschaftlichen Vereins mit einem Bus, hauptsächlich voll älterer
Lehrer, startete. Auch eine ehemalige Lehrerin von mir befand sich darunter. Die
Schulzeit war mir schon zu weit entrückt, um sie noch ernst zu nehmen. Aber wenn
mir ehemalige Lehrer begegneten, erkannten sie mich immer wieder. Ich musste
einen bleibenden Eindruck hinterlassen haben, obwohl ich zu den ruhigen Schülern
mit durchschnittlichen Noten gehört hatte.
Wir besichtigten diesmal verschiedene Wasserwerke, im Jugendstil errichtet,
geräumige Hallen, schön gekachelt, glänzend und sauber, ergänzt durch moderne
Filteranlagen, die wir hinauf- und hinunterbekletterten und Sand- und
Kiesgruben, die von den Stein- und Fossiliensammlern unter uns durchwühlt
wurden. Wir weniger Eifrigen bewunderten die gern vorgezeigten Stücke und ihre
Finder und unterhielten uns mit dem Exkursionsleiter, einem Hydrogeologen. Ich
fragte ihn, ob er irgendeine bezahlte bodenkundliche Tätigkeit für mich wisse.
Eigentlich wollte ich nur dem Vorwurf meiner Eltern entkommen, ich würde nichts
unternehmen und nicht alle meine Möglichkeiten ausschöpfen. - 'Ja. Mein Kollege
sucht gerade Studenten, die die amtlichen Unterlagen von der Bodenschätzung auf
bodenkundliche Spezialkarten übertragen. Es ist nur eine befristete Arbeit und
nicht gut bezahlt, aber falls Sie Interesse haben, rufen Sie ihn doch an. Nur
müssen Sie es bald tun, die Sache ist, soweit ich weiß, schon am Laufen.'
'Danke. Das werde ich gleich morgen machen.' - Es geht vorwärts, dachte ich,
endlich gibt es etwas zu unternehmen und ich fand den Steinbruch auf einmal
wieder genauso attraktiv wie zu Studienzeiten und hämmerte ebenfalls drauflos.
Die Sonne schien nun, wenn auch noch grau verschleiert. Ein wärmeres Wetter
versprechendes milchiges Orange begleitete mich auf meinem Heimweg und weckte
mich wieder am nächsten Morgen. Da die allgemein übliche Bürozeit schon vor
einer Weile ausgebrochen war, rief ich zuerst einmal an. - 'Guten Morgen. Mein
Kollege von der Hydrogeologie hat mir schon von Ihnen erzählt. Verstehen Sie
auch etwas von Pflanzenbestimmung? Ja? Das ist gut. Wir fangen am ersten August
an. Kommen Sie dann vormittags vorbei. Nicht vor neun Uhr. - Und bringen Sie
Ihre Zeugnisse mit. Das interessiert mich. Auf Wiedersehen.' -
Die Sonne leuchtete nun ganz rund und vollgelb aus dem weißlichblauen Dunst und
verhieß einen herrlichen Tag. Ich zog mich an und schaute im Garten nach meiner
Mutter aus. Sie betrachtete gerade kritisch unseren kümmerlichen Kirschbaum, in
den Händen halbreife Kirschen von Nachbars prächtigem Baum haltend, die die
Amseln in unseren Garten getragen und angepickt hatten.
'Ob das für einen zweiten Kirschmichel reicht? Wollen wir zusammen frühstücken?
Ich war vorhin schon beim Bäcker und habe Nusstörtchen geholt.' - Wir gingen in
die Küche. Kaffee, Nusstörtchen und dazu die Zusage des Bodenkundlers - seit
Wochen war es mir nicht mehr aufgefallen, wie gut es mir eigentlich ging. –
Und ab August begann dann mein Pendlerleben, was ich, mit Unterbrechungen, bis
heute führe. Es ist ein Leben mit Lokomotiven und Wagons, mit zugigen
Bahnsteigen, unverständlichen Lautsprecherdurchsagen und vielen, vielen Stufen,
die hastig hinauf- und hinuntergerannt werden wollen und mit einem ständigen
Blick auf irgendeinen Uhrzeiger, der nicht stehen bleiben will.
Schon als Kind war einer meiner bevorzugtesten - und verbotensten - Spielorte
der Bahndamm beim Südbahnhof. Dort war es sonnig und windgeschützt, es gab viel
trockenen Sand mit Kaninchen, Ameisenlöwen und Katzenpfötchen. Ständig rollten
Züge in Nord-Süd-Richtung vorbei und ihr "tacktack – tacktack – tacktack“
gehörte einfach dazu. Den Südbahnhof selber mochte ich sehr, besonders die
grünblauen Kacheln der Wände, das war für mich eine geheimnisvolle Farbe, weil
ich sie mit meinen Wasserfarben nicht nachvollziehen konnte, den Kaugummiautomat
- es gab die besten Kaugummis der Welt für fünf Pfennige - und, wenn ich es mir
leisten konnte, den größeren Süßigkeitenautomat, an dem man für zwanzig Pfennige
Traubenzucker mit Zitronengeschmack ziehen konnte. Aber das war ein seltener
Luxus.
Damals wohnte ich in der Postsiedlung und ging auf die Wilhelm-Leuschner-Schule,
in eine Klasse mit 54 Schülern und Schülerinnen. Für so viele Kinder reichten
die Sitzplätze im Klassenraum noch nicht einmal, es wurde einfach vorausgesetzt,
dass immer welche krank waren und fehlten.
Später bauten meine Eltern und zogen ans Böllenfalltor. Auch dort gab es eine
Art Bahnhof, nämlich das Straßenbahndepot. Allerdings habe ich nie versucht
darin zu spielen, ich war einfach schon zu alt dafür.
Der Darmstädter Hauptbahnhof gehört ebenfalls zu meiner Kindheit. Meine
frühesten Erinnerungen sind Gerüche und der Hauptbahnhof roch immer noch nach
Dampflokomotiven, obwohl dort irgendwann, zumindest regelmäßig, keine mehr
fuhren. Mit Dampfzügen bin ich trotzdem gefahren und zwar vom Ostbahnhof aus in
den Odenwald. Von dort aus fuhren noch sehr lange Dampfzüge. Meine erste Reise
alleine führte mich im Alter von 10 Jahren mit solch einem Zug nach Reinheim, wo
eine Klassenkameradin wohnte, die täglich mit der Eisenbahn pendelte. Das war
für sie eine sehr zeitaufwändige Sache und diese Schüler, die aus
Odenwalddörfern kamen, hatten kaum eine Chance bis zum Abitur durchzuhalten.
Eine weitere Kindheitserinnerung an den Darmstädter Hauptbahnhof waren die
Knipserhäuschen. Richtig Weihnachten wurde es in meiner Familie erst, wenn die
Omas aus Ost-Berlin mit dem Interzonenzug eintrafen. Die ganze Familie eilte
dann auf den Bahnhof. Und bei der Rückfahrt war das genauso. Nur wollten wir so
lange wie möglich bei den Omas bleiben und lösten deshalb Bahnsteigkarten. Alle
Karten, die Bahnsteigkarten und die Fahrkarten, wurden mit einer Zange von
Bahnbeamten gelocht. Deren Häuschen standen kurz vor der Brücke über die Gleise,
so dass jeder, der einen Bahnsteig betreten wollte, gezwungen war, dort
vorbeizugehen. Wenn wir lange auf einen Zug warten mussten, die Interzonenzüge
hatten oft stundenlang Verspätung, durften mein Bruder und ich auch mal die
schöne große Modell-Dampflok, die noch vor dem Bahnsteigbereich stand, mit einem
Zehn-Pfennig-Stück in Bewegung setzen.
Als meine berufliche Laufbahn begann, waren Knipserhäuschen und
Modell-Lokomotive längst verschwunden. Mein Zug nach Mainz wurde von einer
Elektrolok gezogen, führte aber die gleichen dunkelgrünen Anhänger wie der Zug
in den Odenwald. Diese Pendelei dauerte ein halbes Jahr, dann war mein
befristetes Arbeitsverhältnis beendet und ich wechselte in ein ähnliches, auch
für ein halbes Jahr, in Stuttgart. Anschließend fuhr ich wieder für ein halbes
Jahr nach Mainz. Etwas müde vom täglichen Hin-und-Her, stieg ich am letzten Tag
die Treppe zum Ausgang hinauf. Das war bis heute meine letzte Reise mit der Bahn
nach Mainz gewesen und auch meine letzte Tätigkeit als Agrarbiologin.
Unter vier Augen war mir mehr als einmal gesagt worden, dass die Festeinstellung
einer Frau, womöglich sogar noch als Beamtin, nicht in Frage käme, da sie im
Extremfall jahrzehntelang durch Mutterschutz und Erziehungsjahre ausfallen und
danach endgültig kündigen könne. Dieses Frauenbeschäftigungsbehinderungsgesetz
samt seinen Befürwortern verfluchte ich sehr - und das bis heute. Als nächstes
scheiterte ich an der Bundeswehr. Ein mutiger Sachbearbeiter beim Arbeitsamt
wollte mich dorthin vermitteln, weil zu meiner Diplomarbeit Luftbildauswertung
gehört hatte und dafür wurde jemand gesucht. Aber natürlich wurde eine Frau
strikt abgelehnt. Die letzte Falle war nicht frauenspezifisch. Weil ich studiert
hatte, galt meine Ausbildung als höherwertiger als alle anderen und deshalb
konnte mir keine Umschulung finanziert werden.
Es blieb mir also nur irgendein mutiger Schritt in eine neue Richtung übrig. Ich
beschloss, mein Hobby zum Beruf zu machen und wurde Fluglehrerin. Zur
Familiengeschichte passte es. Mein Onkel war Maschinenbau-Professor an der FH in
Darmstadt und hatte früher die berühmten Argus-Flugmotoren mitentwickelt und
mein Vater war im Krieg bei den Fliegern gewesen. Mein Bruder studierte
Maschinenbau an der TU in Gebäuden auf der Lichtwiese, die mal Darmstadts
Flughafen gewesen war. Und ich landete jetzt gelegentlich, wenn es die
US-Streitkräfte erlaubten, auf dem "neuen" Flugplatz von Darmstadt in Griesheim.
Wobei mich dort weniger der historische Windkanal als viel mehr die Trocken- und
Magerrasenvegetation interessierten - und, verdammt noch mal, es war verflixt
schwierig, den umgekehrten Weg zu gehen und den studierten Beruf zum Hobby zu
machen.
Diesmal pendelte ich zwischen Darmstadt und Flugplatz Egelsbach. Und wieder war
es eine E-Lok mit grünen Anhängern, auch wenn sich dieser Zug "S-Bahn" nannte.
Von einer "S-Bahn" war diese Art Schienenverkehr noch weit entfernt. Die Züge
hatten im allgemeinen viel Verspätung, weil der Nahverkehr allem anderen
untergeordnet war und auf jeden Anschluss warten und jeden Eilzug oder D-Zug
vorüberlassen musste. Ich gewöhnte mich daran viele Stunden mit den Bahnbeamten
im Egelsbacher Bahnhof zu verbringen, wo es sogar vom ehemaligen Darmstädter
Großherzog einen fürstlichen Wartesaal gab, der allerdings inzwischen zum
Paketlager degradiert war.
Fluglehrerin war ein toller Job, aber auch nur für das Sommerhalbjahr. Für den
Winter musste ich mir etwas anderes einfallen lassen und es musste eine
versicherungspflichtige Tätigkeit sein, damit ich endlich einen Anspruch auf
Arbeitslosengeld erwarb und als Arbeitsuchende ernst genommen wurde. In
Frankfurt fand ich eine Arbeit als Bürokraft in einer Firma, die Luftfahrtkarten
und andere Artikel für die Luftfahrt herstellte. Vier Jahre pendelte ich jetzt
zwischen Darmstadt und Frankfurt mit der sogenannten S-Bahn hin und her. Meine
Wartezeiten verbrachte ich in Frankfurt entweder in der Milchbar oder auf der
B-Ebene, wo in einer Ecke meine alte Darmstädter Modell-Dampflok mich an meine
Kindertage erinnerte. Jedes Detail kannte ich bald in- und auswendig und ich
dachte mir viele Geschichten dazu aus. Ein Auto oder eine Wohnung konnte ich mir
nicht leisten, weil ich nur als ungelernte Hilfskraft angestellt war, mit
Tarifgehalt (eine von meinem Chef vorgeschlagene andere Einstufung lehnte der
Betriebsrat ab, dafür sollte ich erst mal eine passende Ausbildung nachweisen,
was für mich aber wiederum nicht finanzierbar war usw.). Ich löste das Problem
endlich auf die konservative Art, heiratete einen Piloten, der das
Familieneinkommen erarbeitete und zog zu Hause zwei Söhne auf.
Dann kam die Wiedervereinigung und mit dem Wegfall der Mauer kam auch der
Wegfall der Interzonenzüge. Meine Omas lebten zwar längst nicht mehr, trotzdem
war meine erste Tat, nach Berlin zu fahren, an meinen Geburtsort direkt neben
dem Flugplatz Tempelhof. Auf der Rückfahrt sah ich noch mehr Dinge fallen. Genau
in dem Augenblick, als der Zug am Bahnhof Egelsbach vorbeizuckelte, fiel das
Gebäude durch eine gezielte Sprengung in sich zusammen. Auch hier musste das
Alte dem Neuen weichen. Mit etwas Wehmut dachte ich an den großherzoglichen
Wartesaal und die vielen untauglichen Pläne, die es zu seiner Rettung gegeben
hatte und hoffte nur, die Darmstädter würden mit ihrem großherzoglichen Bahnhof
nicht genauso verfahren. Nun, die Zeit hat für den Fürstenbahnhof gearbeitet.
Inzwischen ist das Alte einer neuen, zeitgemäßen Nutzung zugeführt worden. Das
war es, was ich allem Alten wünschte, auch mir selber, dass es sinnvoll ins Neue
integriert würde.
Und es kam - wie ein Aufziehwerk, was eines nach dem anderen abarbeitet.
Eines Tages stand ich mit meinen beiden Söhnen auf dem Bahnsteig in Wixhausen
und begrüßte die echte, richtige S-Bahn aus Darmstadt nach Frankfurt. Einen Tag
lang durfte man kostenlos damit hin- und herfahren. Dafür hatte der Egelsbacher
Bahnhof weichen müssen. Es dauerte noch eine Weile bis die S-Bahn nach ihrem
eigenen Fahrplan fuhr.
Dann konnte unser Familienernährer keinen Beruf mehr ausüben und ich wurde
gefordert. Mein Weg führte mich in das neue Arbeitsamt, zu neuen Leuten und mit
neuer Hoffnung, denn nun stand mir wenigstens Arbeitslosengeld zu. Es hatte sich
viel geändert. Ich durfte eine Umschulung besuchen, sogar einen Halbtagskurs,
weil ich Mutter mit minderjährigen Kindern war. Es gab zwar nur einen einzigen
Beruf , nämlich Bürokauffrau, aber mit Abschluss. Damit war ich wenigstens
ungefähr genauso gut qualifiziert wie meine Mutter und meine Tante.
Vorsichtshalber bemühte ich mich, IHK-Beste zu werden, denn eine Hürde musste
ich noch nehmen, das war mein inzwischen fortgeschrittenes Alter.
Nach abermals über hundert Bewerbungen pendelte ich wieder täglich nach
Frankfurt zur Arbeit. Aber diesmal mit der S-Bahn auf ihrem eigenen Gleiskörper,
zwar auch mit einigen, aber nicht ganz so alltäglichen Verspätungen. Und ich war
nicht mehr ungelernte Hilfskraft, sondern Bürokauffrau mit Zusatzqualifikationen
in einem Betrieb der Luftfahrtindustrie, zwar immer noch weit von einem
akademischen Gehalt entfernt, aber in der Lage meine Familie einigermaßen über
die Runden zu bringen - und meine Firma arbeitet mit dem denkmalgeschützten
Windkanal der TU Darmstadt am Griesheimer Flugplatz zusammen.
Der letzte Höhepunkt meiner Pendlerkarriere war die Neugestaltung des
Darmstädter Hauptbahnhofs und die Rückkehr der alten Modell-Dampflok dorthin,
womit sich für mich der Kreis geschlossen hat und ich wieder bei meinen
Kindheitserinnerungen angelangt bin. - Vielleicht, wenn dieses dumme Älterwerden
nicht wäre, vielleicht in weiteren zehn bis fünfzehn Jahren, vielleicht fährt
die S-Bahn dann zweigleisig oder als Magnetschwebebahn und ich bräuchte sie gar
nicht mehr, weil ich mir ein eigenes Auto leisten könnte, bei dem Spitzengehalt,
was ich dann hätte - selbstverständlich als Agrarbiologin? - Vielleicht besuche
ich auch nur mit meinen Enkeln die Modell-Dampflok und lasse sie eine
10-Cent?-Münze einwerfen und erzähle ihnen, dass solche Lokomotiven früher nicht
nur im Kranichsteiner Eisenbahn-Museum herumstanden sondern ein Stück weit die
zwei getrennten Teile
Deutschlands
verbunden haben?