Schwerpunkthema 1999:
Seit einigen Monaten diskutieren wir in unserer Vorbereitungsgruppe Aspekte des Schwerpunkts, die wir Euch im folgenden vorstellen wollen: Unsere Diskussionen und Planungen haben sich bisher an den Begriffen "Frauenmehrwert" und "Bilanz" orientiert. Wortspielereien mit Hintersinn zu Beginn: "Frauenmehrwert" - Frauen sind mehr wert (als sie erhalten)! - Der Mehrwert in der Produktion, was erhalten Frauen davon? - Gibt es auch Mehrwert in der "Reproduktion" und bekommen den die Frauen? Wie verändern sich gesellschaftliche Diskussionen und wie verhalten wir FrauenLesben uns selbst? Haben sich Wertzuweisungen durch Aktivitäten und Kämpfe der Frauenbewegung verändert? Was verstehen wir eigentlich unter Frauen? Mädchen, Teenies, Auszubildende, Studentinnen, Arbeiterinnen, Managerinnen, Mütter, Omas, Ehefrauen, Lesben, Migrantinnen, um nur einige Möglichkeiten zu nennen. Frauen - ein pauschalisierender Begriff, der uns alle vereinnahmt?
Die aktuellen Diskussionen zur verordneten Zweigeschlechtlichkeit und unserer eigenen Identität als FrauLesbe sowie die politische Notwendigkeit des Zusammenhalts von Frauen, trotz all unserer Unterschiedlichkeiten und Differenzen, bildeten Grundlagen unserer Überlegungen. Gibt es eigentlich eine biologische Definition von Geschlecht, die nicht gesellschaftlich bestimmt und vielleicht sogar ganz eindeutig ist? Was bedeutet Frau und Mann, welche Interessen stehen hinter der sexualitätsbezogenen Zweiteilung der Menschheit und wie stark sind wir über unsere sexuelle Identität darin verflochten?
Verschiedenheiten und Differenzen von Frauen sind riesig und gleichwohl werden FrauenLesben immer noch (und oftmals auch von uns selbst!) an stereotypen Vorstellungen von Frausein bewertet, ein- und zugeordnet. Mit diesem Gedankengang wenden wir uns der "Bilanz am Ende des Jahrtausends" zu. Welche Veränderungen konnten insbesondere durch die Frauenbewegung in Gang gesetzt werden, wo verharren wir in der Starrheit der Strukturen und der eigenen Verflochtenheit mit Herrschaft und Dominanz. Daß wir überhaupt solche Fragen stellen, ist wichtiges Indiz der Veränderung, doch gilt es substanzielle Verbesserungen ebenso wie Festgefahrenes und scheinbare Ausweglosigkeiten zu benennen.
Richtschnur einer solchen Bilanzierung könnte der Begriff des "Wertes" sein. Welcher Wert wird den Geschlechtern am Ende des Jahrtausends im Vergleich zu beispielsweise den sechziger Jahren in der BRD/DDR beigemessen, sowohl im gesellschaftlichen als auch im ökonomischen Sinne? Wie selbstverständlich muß immer noch hinter jedem erfolgreichen Mann eine Frau stehen, die ihm den Rücken freihält? Wer erwirtschaftet hier eigentlich den Mehrwert, wem wird er zugewiesen und wer erhält immer noch die Lorbeeren? Können FrauenLesben auf eben solche Unterstützung durch die Männer rechnen, oder anders gefragt: Wer und unter welchen Bedingungen erledigt für erfolgreiche Frauen notwendige Arbeiten wie Kinderbetreuung und Haushalt (Reproduktionsarbeit)? Wieviel Legitimation werden steuerrechtlichen und versorgungstechnischen Bestimmungen immer noch zugebilligt, die ein veraltetes Familienideal zementieren? Wo finden wir zukunftsweisende Konzepte und deren Umsetzung, die den Produktions- und Reproduktionsbereich in der Weise kombinieren oder vereinen, daß möglichst viele Menschen sich dauerhaft wohl fühlen? Ist es tatsächlich immer noch so, daß die Hälfte der Bevölkerung systematisch benachteiligt wird in Ausbildung, Berufseinstieg, Berufsverlauf und Altersversorgung? Warum können sich FrauenLesben immer noch nicht selbstverständlich für jeden Lebensweg entscheiden? Nach dieser Bestandsaufnahme könnte ein weiterer Schritt im Bilanzieren darin bestehen, die politischen Forderungen und Entwürfe der Frauenbewegung sowie deren Umsetzung zu überprüfen, ob sie weiterhin sinnvoll sind und die gewünschten Ziele erreicht haben bzw. erreichen werden. Bezüglich der Berufsarbeit von Frauen sollte gefragt werden nach den Auswirkungen von Frauenförderplänen, Frauenquoten und der Arbeit der Gleichstellungsbeauftragten auf die Angleichung der Chancen aller Geschlechter. Im Bereich Bildung und Forschung sollten institutionelle Verfaßtheiten wie beispielsweise Ko- und Monoedukation, sowie Frauenstudiengänge und -universitäten bewertet werden bezüglich der Entfaltung von Lebenschancen für FrauenLesben. Setzen FrauenLesben in Wissenschaft und Gesellschaft andere Schwerpunkte als Männer? In welchem Zusammenhang könnte so eine Frage sinnvoll beantwortet werden und hätte dies mit Rückbezug auf die Fragen zu verordneten Zweigeschlechtlichkeit überhaupt irgendeine Plausibilität und Notwendigkeit?Bei all diesen Fragen wäre eine Erweiterung auf andere Länder und den Zeitraum von ca. 40 Jahren notwendig und lehrreich. Vermutlich übersteigt dies aber unsere Möglichkeiten der Vorbereitung. Das Schwerpunktthema setzt damit in der Formulierung einen Anspruch, der nicht erfüllt werden kann, zugleich aber den Horizont notwendiger theoretischer und praktisch-politischer Durchdringung absteckt. So wollen wir mit Euch auf dem Kongress mindestens Denkanstöße erhalten, vielleicht darüber hinaus Ansätze von Selbstreflexion und in utopischer Weise Impulse für eine neue Welle der Frauenbewegung initiieren.